Wie man Liebesbriefe im Internet-Zeitalter schreibt

Artikel, Essays, Prosa (Auswahl)

Lesen Sie einige Texte am Ende der Liste.

 

  • Unbehauste - 23 Autoren über Fremdsein ("Fremd gehen"), hrsg. Alexander Broicher, Nicolai Verlag, Berlin 2015

  • Der Tagesspiegel, "Gefährliche Hoffnung, harte Liebe - Israel nach den Wahlen", 25.3.2015

  • Artikel zur WM 2014 auf der größten israelischen Sportwebsite sport5.

  • Ethik im Gespräch – Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik („Über den schelmischen Widerstand der Literatur“), hrsg. von Stephanie Waldow, Bielefeld, transkript Verlag 2011.

  • StadtAnsichten 4/2010 („Essay über den Verrat“), Wolfsburg 2010

  • Playboy 5/2010 („Positionsspiel“), München 2010.

  • Literaturen („Literatur und Sex“), Mai 2009.

  • RockStories („Das Angus-Läuten des Hard Rock“), hrsg. von Thomas Kraft, München, LangenMüller 2009.

  • Titelkampf – Geschichten der deutschen Nationalmannschaft der Autoren, („Abschiedsspiel“), hrsg. Ralf Bönt, Albert Ostermeier, Moritz Rinke, Frankfurt, Suhrkamp Verlag 2008.

  • DIE ZEIT, "Was mache ich hier? Mit der Autorennationalmannschaft in Saudi-Arabien", 20.3.2008

  • Die Welt, "In den Flammen des Digitalen - Was hinterlassen uns Dichter, wenn sie ihre Manuskripte nur noch auf dem Computer schreiben?", 7.1.2006

  • Beste deutsche Erzähler 2004 („Arbeitstag eines Journalisten“), hrsg. von Hubert Winkels, München, DVA 2004.

  • Stadt Land Krieg („Kohn in der Couch“), hrsg. Tanja Dückers und Verena Carl, Berlin, Aufbau Verlag 2004.

  • Frankfurter Allgemeine Zeitung, "Das Ende der Feigheit - Rainald Goetz", 5.9.2001

  • Akzente („Rechtsradikalismus und Mediengesellschaft“, Juni 2001, „Plädoyer für den Liebestod“, August 2002).

  • Sprache im technischen Zeitalter („Michel Houellebecq - ein Interview“, April 2001).

  • manuskripte („BERLIN FILM STILLS“, Nr. 150/2000).

  • ndl („Der Mann im Turm“, 1/2000, „Zähne zeigen“, 2/2004).

  • Sinn und Form („Die Beschriftung der Bilder - Zur Poetik von Don DeLillo“, 4/1999). 


"Was du immer schon mal heimlich wolltest"
Wie man Liebesbriefe im Internet-Zeitalter schreibt

Von Norbert Kron

                                                            

"Liebesbriefe gibt es ja kaum noch", heißt es in einem kürzlich erschienenen Roman. Und auch wenn "so ein Liebesbrieferlebnis ja eine den Tag beschäftigende Aufwühlung" ist - und der verliebte Erzähler sich deshalb vornimmt: "zur Post zu gehen und zu sagen, bitte schicken Sie mir nur noch Liebesbriefe" -, weiß er schon im vorhinein, welch enttäuschende Erfahrung er machen wird: "man wird Jahre warten, täglich wartet man vergebens, täglich wundert man sich, daß keiner kommt, daß kein Liebesbrief kommt".

     Liebesbriefe, mit geschwungener Handschrift verfaßt und mit rotem Lippenabdruck signiert, sind in der Tat selten geworden. Man muß sich nur mal im Freundeskreis umhören, um zu erfahren: Kaum jemand kann sich noch entsinnen, wann er die letzte Liebespost im Briefkasten stecken hatte. Früher, so wird beteuert, war das anders. Da wurden Herzensbotschaften als zusammengefaltete Zettelchen unter Schulbänken weitergereicht, da fuhr man mit der U-Bahn abends bis zur Angebeten, um Überraschungspäckchen eigenhändig in den Briefschlitz zu stecken, da schickte man Bekennerbriefe per Einschreiben, damit die Umworbene sich den telefonischen Nachstellungen nicht entziehen konnte. Und heute? Es stimmt: Da kann man Jahre warten, bis der Postmann auch nur einmal klingelt und mit einem Liebesbrief winkt.

     Woran liegt das? Leben wir in gefühlskalten Zeiten, in denen weniger aufwühlend geliebt wird? In denen die Partnersuche pragmatisch über Kontaktanzeigen abgewickelt wird und Begierde nur noch als hormonelles Konsumbedürfnis verstanden wird? Im Gegenteil. Wer den ersten Roman "Liebeserklärung" des Bachmann-Preisträgers Michael Lentz liest, kann miterleben, wie die Emotionen einen Liebenden auch heute so in Fahrt bringen, daß er sich sein Gefühlswelt erst wieder zusammenbuchstabieren muß, die Liebe im wörtlichen Sinn "erklären". Ständig auf Reisen, schickt er seiner Geliebten eine SMS nach der anderen und verstrickt sich mit ihr in einen leidenschaftlichen Austauch amouröser Kurznachrichten. Das ist der wahre Grund, warum heute keine Liebesbriefe mehr mit der Hand geschrieben werden: Zu ungebremst drängt das Gefühl in unserer schnellebigen Zeit nach Artikulation, als daß die gute alte Schneckenpost noch mithalten könnte. So wie das "billet doux", einst ein zugeschmuggelter Kassiber, ins mobile Telekommunikationsnetz abgewandert ist, hat sich die ausschweifende Liebeskommunikation ins Internet verlagert. Dort wuchert sie, nimmt ungeahnte Formen an, überquert in Lichtgeschwindigkeit ganze Kontinente. Mußte man früher tage- oder wochenlang auf den nächsten Brief warten, reicht heute ein Tastendruck, und die oder der Liebste erhält den neuen elektronischen Herzenserguss mit angehängter Klangfile und Bilddatei - oder kommt gar per MMS übers Fotohandy unter die Bettdecke.

     Der Liebesbrief ist tot - es lebe die Liebesmail. Das Medium hat sich gewandelt, aber die Gefühle bleiben dieselben, ja werden durch die Schnelligkeit der Datenübertragung so angeheizt, dass der Übermittlung von Liebesbotschaften ganz neue Bedeutung zukommt. Schon im Hollywoodstreifen "Email für Dich" war zu sehen, wie die Zuneigung zwischen zweien - zumal wenn sie sich unbekannt sind - beim sehnsüchtigen Abfragen der Computerpost immer weiter hochgeschaukelt wird. Ironischer und feinsinniger noch beschreibt jetzt die Fankfurter Journalistin Hilal Sezgin in der aktuellen Ausgabe des "Kursbuches", welch nervenaufreibend-schönen Blüten die Liebeskorrespondenz bei den Mittdreißigern treibt, die den Wandel vom Brief- zum Email-Zeitalter vermutlich am unmittelbarsten miterlebt haben.

     Die Schnelligkeit der Datenübertragung hat die Qual des Begehrenden nämlich keineswegs gemindert - im Gegenteil: Eben weil ein Liebeszeichen nicht nur einmal am Tag mit der Post kommen kann, geht mit der Internetkorrespondenz ein permanentes "Hoffen, Bangen, Sehnen von einer Email zur nächsten" einher. Da elektronische Post in buchstäblich jeder Sekunde eintreffen kann, beinhaltet auch jede Sekunde, in der sie ausbleibt, ein Moment der Frustration. Das Medium, das unser komplexes "analoges" Fühlen in strikt binären Zahlenfolgen weiterleitet, läßt uns auf diese Weise ununterbrochen, so Hilal Sezgin, den eklatanten "Unterschied zwischen 0 und 1" erfahren. "Sie haben 1 Email" heißt: Er liebt mich. "Sie haben 0 Emails": Er liebt mich nicht. Das daraus resultierende Dauer-Standby, das der Liebende gegenüber seinem Computer einnimmt, kann sich dabei gerade bei Schreibtischarbeitern verheerend auf Konzentrationsfähigkeit und Arbeitskraft auswirken. Und wehe, hinter dem Soundsignal, mit dem der Emailaccount neue elektronische Post meldet, verbirgt sich statt des erhofften Herzensergusses nur weitere Spammail für Viagra.

     Aber das ist noch nicht alles. Nicht nur die Rahmenbedingungen, auch die Sprechformen haben sich mit der Elektronisierung der Liebeskorrespondenz verändert. In nur zehn Jahren ist die traditionelle (Hand-)Schriftsprache einer Schriftform gewichen, die in ihrer Schnelligkeit oft ans Mündliche grenzt - ein Wandel, der die traditionellen Codes der Gefühlsdarstellung verändert und bereichert. Es scheint kein Zufall, daß dieser Tage immer wieder Sachbücher erscheinen, die den Liebesbrief aus der guten alten Zeit zum Gegenstand haben - oder gar Nachhilfe geben, wie man heute an den Liebespartner schreibt. Unter so sprechenden Titeln wie "Ich bin eigentlich sonst ganz vernünftig" oder "Du bist mir alles Licht und alles Leben" versammeln diverse Bände die Liebesbriefe berühmter Persönlichkeiten. Wie Goethe Charlotte von Stein umwarb oder George Sand Alfred de Musset: Das erinnert uns daran, daß der Liebesbrief einst ein literarisches Genre war, bei dem das Persönlichste oft im formelhaften Pathos unterging. Daß die Rhetorik von annodazumal aber heute nur noch bedingt anwendbar ist, zeigt ein anderes Buch, das sich als "Anleitung" für Liebesbriefe versteht. Lehrreicher als die harmlose Einführung des englischen Bestsellerphilosophen Alain de Botton sind darin die exklusiven Briefe, mit denen uns bekannte jüngere Autoren (von Maike Wetzel bis Feridun Zaimoglou) vormachen, wie man heute seine Zuneigung an den Mann oder an die Frau bringt. Sie zeigen, wie sich hochfliegende Metaphern und MTV-Sprech zu äußerst erfolgsversprechenden Lippenbekenntnissen der Liebe verbünden - wie gerade im Wechsel der Sprachebenen, in den Abweichungen vom klassischen Liebesvokabular Echtheit entsteht.

     Daß beim Liebesbrief "der beste Anfang oft eine Lüge" sei - oder: daß der Verliebte auch "auf schöne Weise stammeln" soll (anstelle perfekt zu formulieren) - das sind Tipps, die an die uralte, ewigneue Zwickmühle erinnern, in der der Liebesbriefschreiber sitzt. Einerseits wird kaum ein menschliches Gefühl drängender und authentischer erlebt als die Liebe. Andererseits versagt uns die Sprache gerade auf diesem Gebiet ihre Originalität. Ob "I love you", "je t'aime" oder "Ti amo" - jedes dieser Herzensbekenntnisse klingt nur noch nach einer abgespielten Schallplatte, die hunderttausendmal über den Ladentisch gegangen ist. Wie echt sie auch empfunden sein mögen: die Beteuerungen von Herzrasen, brennender Eifersucht und ewiger Liebe sind zu Formeln geworden, denen erst wieder Leben eingehaucht werden muß. Genau darin besteht die Kunst des Liebesbriefs: die überkommene Sprache der Liebe gegen den Strich zu bürsten, ihr das Unverhoffte, Unkonventionelle abzugewinnen. Eingebettet in persönliche Anekdoten, flankiert von Insider-Anspielungen, gewürzt mit frivolen Wortspielen, hören ihre Formulierungen dann auf, selbstreferentielle Floskeln zu sein, und beginnen wieder auf das Du zu verweisen, das sie eigentlich im Sinn haben.

     Gerade Emails haben dafür paradoxerweise die besten Voraussetzungen. Obwohl elektronische Liebespost formal nicht vom Massenbrief zu unterscheiden ist - und dem Leser stets zu denken gibt: "Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift gültig" -, ist gerade ihre Sprache oft individueller, spontaner, witziger als jedes wohlformulierte handschriftliche Liebesbekenntnis früherer Zeiten. Oder wie eine Liebesmail-Autorin köstlich verquer in Hilal Sezgins "Kursbuch"-Artikel an den Geliebten schreibt: Laß uns austauschen "über heißen Kakao und kühle Sahnespritzer, über deine Nüsse und meine Intimrasur, über was du immer schon mal heimlich wolltest und über was so schön hat geprickelt in mein BauchNaböll."

     Das Verschwinden des alten Liebesbriefs muß nicht kulturpessimistisch beheult werden. Obwohl handgeschrieben, war er weder ehrlicher noch orgineller. Eines läßt sich aus dem - wiederholt vernommenen - Bedauern über seinen Untergang aber doch lernen. Mögen Lentz' Klageworte über den Liebesbrief auch an Reinhard Meys Requiem für die Maikäfer erinnert: Sie weisen daraufhin, daß diese ausgestorbene Textgattung in manchen Situationen zum Mittel der Wahl werden kann. Gerade weil die Leitungen des Internets vor Liebesbotschaften nur so glühen, gewinnt der Brief, der mit der guten alten Schneckenpost expediert wird, eine große, suggestive Bedeutung. Als handverlesener Ausnahmefall läßt er sich mit einer Botschaft aufladen, die Mails angesichts ihrer Alltäglichkeit nur schwer erreichen können.

     In der laufenden Liebeskorrespondenz, von der flirtenden Annäherung bis zum postkoitalen Geflüster, sind Emails nicht zu schlagen. In seismographischer Schnelligkeit zeichnen sich ihnen all die kleinen Entwicklungen einer Liebe auf. Wer sie vor der Löschtaste bewahrt und als Datei aufhebt, wird in ihnen später das Tage-, ja Stundenbuch seines Liebeslebens wiederfinden. Aber für den besonderen Moment, für manch entscheidendes Bekenntnis, eignet sich der handgeschriebene Liebesbrief vielleicht immer noch am besten. Auf Büttenpapier geschrieben, mit Parfüm eingestäubt oder zu überraschender Stunde vor einer Tür deponiert, kann er heute die großen Stationen einer Liebe markieren - von der ersten Liebeserklärung bishin zum Abschiedsbrief.


M.L. Bromberg: "Liebesbriefe. Mit einer Anleitung von Alain de Botton", S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. "Du bist mir alles Licht und alles Leben" sowie "Du meine Hoffnung, meine Zuflucht, meine Freude", Sanssouci Verlag, Zürich. "...ich bin sonst eigentlich ganz vernünftig", Dumont-Verlag, Köln 2004.

(Erschienen in "Der Tagesspiegel".)


Der Wille ist stark, aber das Fleisch ist noch stärker

Wie Männer und Frauen sich gegen ihren Willen glücklich machen

Von Norbert Kron

 

Es war eine heimliche, "friedliche" Revolution, die im Lauf der letzten Jahre stattfand - und doch das jüngste Kapitel im Krieg der Geschlechter. Sie vollzog sich, als hätte niemand daran mitgewirkt, und hat ihre Kinder - Frauen und Männer - doch mit Haut und Haaren gefressen. Der Beweis läßt sich bei jeder Party oder Tischgesellschaft antreten. Wer nonchalant die Behauptung in den Raum wirft, daß "Frauen und Männer nicht zueinander passen", kann sich nicht nur ungeteilter Aufmerksamkeit erfreuen - er wird sogar breite Zustimmung ernten. Und das Stichwort Hormone, in Gegenwart intellektueller Frauen ausgesprochen, liefert den Stoff für todsichere Flirts.

     Zum Beispiel neulich auf einer Party. Vor zehn Jahren wäre es noch ein chauvinistischer Fettnapf sondergleichen gewesen, einen Bestseller wie "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" allein vom Titel her zu kennen. Heute ist das Bekenntnis zur Lektüre solch eines Buches der Aufhänger zu abendfüllender Verbalerotik, bei der die Allianzen zwischen Männern und Frauen wechseln wie weiland, in den 70ern, die Paarungen beim basisdemokratischen Gruppensex. Da ist Ariane, eine stolze Schönheit, Kulturjournalistin und frischgebackene Mutter, die sofort bestätigt, soeben auf "arte" eine Dokumentation über die Evolutionsgeschichte der Sexualität gesehen zu haben. Herbert, Doktor der Psychologie, weiß zu bekräftigen, daß die Gehirne von Männern (ehemaligen Jägern) ganz anders funktionieren als die von Frauen (einstigen Nestbeschützerinnen). Und Caroline, eine burschikose Blonde, die Becks trinkt, springt untermauernd bei, daß der Geruchssinn Frauen während des Eisprungs eine andere Partnerwahl treffen lasse als während der restlichen Zeitraums. Motto: Brave Mädchen heiraten den Versorger-Typ - böse Mädchen schieben ihm das Kuckucksei des Erzeuger-Typen unter. Eine Bemerkung übrigens von delikater Ironie. Ist die beckstrinkende Frau doch hochschwanger.

     Lange vorbei die politisch korrekten Zeiten, in denen stets die gesellschaftliche Unterdrückung der Geschlechtergleichheit betont werden mußte. Heute ist schon Schwarzer-Humor nötig, um den Unterschied zwischen Männern und Frauen noch lächelnden Auges klein reden zu wollen. Ein gutes Vierteljahrhundert, nachdem Deutschlands bekannteste Emanze mit ihrer soziologischen Kampfschrift Furore machte, scheint die Geschlechterkluft größer denn je. Männer und Frauen mögen ein wenig gleichberechtigter geworden sein - aber auf gar keinen Fall gleich. Was ist passiert seit den 80er Jahren, in denen die Laufstege noch von Hermaphroditen bevölkert waren, die Unisex-Mode zur Schau stellten? Als Boy George und Grace Jones die Popikonen eines intellektuellen Diskurses waren, in dem Androgynität und Bisexualität als schick galt? Während die französische Soziologin Elisabeth Badinter damals die Aufhebung der Geschlechterdifferenz zur Utopie erhob (und mit ihrem Buch "L'un est l'autre" einen Bestseller landete), betont heute auch die wissenschaftliche Geschlechterforschung, daß ihr alle didaktischen Gleichheitsbeschwörungen fremd seien und ein kultursoziologisch beschreibendes "Gender"-Verständnis zugrunde läge.

     Doch vor allem die populärwissenschaftliche Literatur hat sich auf den erneuerten Krieg der Geschlechter kapriziert. Wer einen Blick in die Buchhandlungen wirft, findet auch in diesem Frühjahr neue Regalmeter mit Beziehungsratgebern, die nach dem immerselben Schema gestrickt sind. Die Gegensätzlichkeit der Geschlechter gilt längst nicht mehr als Stein des Anstosses, sondern im Gegenteil: als Grundlage des erfolgreichen Miteinander-Auskommens. John Gray, Prophet der "Mars"-Männer und Frauen vom "Venus"-Hügel, hat sich von der Privatsphäre des Beziehungsdurcheinanders auf die Berufswelt verlegt: "Venus und Mars im Büro". Zwar sei wahrhaftige Verständigung zwischen den Geschlechtern ohnehin illusorisch, da Marsianer "murren" und Venüsse "mitteilen", aber dank Gray'scher Hilfe lasse sich die heterosexuelle Kommunikation mit den Kollegen immerhin "verbessern". Kein Wunder also, daß der Frieden der Geschlechter, wie eine andere Neuerscheinung behauptet, heute ohnehin nur durch weibliche Kriegslist zu erreichen ist. Die Anleitung hierfür haben die österreichischen Autorinnen Sabine Riedl und Barbara Schweder geschrieben: "Wie Fauen Männer gegen ihren Willen glücklich machen".

     Alles wie annodazumal? Sind Männer nunmal große Schweiger, die nur das Eine wollen - während Frauen mit alltagskluger Eloquenz den gemeinsamen Nestbau betreiben? Nein, es gibt einen kleinen, verstörenden Unterschied zu früher: Die Beziehungsspezialisten urteilen bei der Wiederaufbereitung der Geschlechterklischees nicht mehr aus dem Bauch heraus - sondern gleichsam aus der Hypophyse: der menschlichen Schaltzentrale für die Hormonproduktion. Längst ist es zum allgemein akzeptierten Konsens geworden, daß wir alle, Männer und Frauen, hormonelle Zeitbomben sind, deren biologische Uhren in unterschiedlichem Takt ticken. Allenthalben feiert der Soziobiologismus fröhliche Urständ - und das dank der Erkenntnisse von Hirnforschern und Evolutionsbiologen, auf die sich die Autoren der Beziehungsratgeber wie auf die Newtonschen Gesetze berufen. So quellen auch seriöse Bücher (wie die von Riedl und Schweder) über von Noredrenalin, das "für die schwärmerische, romantische Liebe" zuständig ist, und Dopamin, das das "wohlige, glückselige Gefühl der Erfüllung" bei Verliebten bewirkt. Und so darf natürlich auch in Jürgen Braters gerade erschienenem "Lexikon der Sexirrtümer" nicht der obligate Eintrag über die Geschlechtshormone fehlen - ein Eintrag, der uns darüber aufklärt, daß die Lust der Frau nicht durch die weiblichen Sexualhormone, Östrogene und Gestagene, hervorgerrufen werde, sondern - durch das männliche Hormon Testosteron.

     Testosteron ist überhaupt die Wunderwaffe in der heutigen Geschlechterdebatte. Wer den Evolutionsbiologen Glauben schenkt, weiß: Die Bedeutung des Männlichkeitshormons reicht weit über seinen mechanistischen Einfluß auf die Anhebung der Manneslust hinaus - sie betrifft unsere sämtlichen Fähigkeiten. Die Frage, "warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken", läßt sich (so das australische Autorenpaar Allan und Barbara Pease) im wesentlichen damit antworten, daß Männer mehr Testosteron als Frauen besitzen. Frauen können keine Straßenkarten lesen - weil es ihnen an jenem hormonellen Stoff mangelt, aus dem auch das räumlich-visuelle Denken gemacht ist.

     Alles Testosteron, oder was? In der Tat läßt sich die Karriere, die der "Hormonismus" in den letzten zehn Jahren gemacht hat, nachgerade mit der des Kommunismus in den 60er Jahren vergleichen. Oder anders gesagt: Im selben Maß, in dem alle Utopien der Steuerbarkeit des Gesellschaftlichen (ob sozialdemokratisch oder sozialistisch) abgewirtschaftet haben, ist die Welt auf einen Sozialdarwinismus umgestiegen, der sich zunehmend als biologisch fundiert erweist. Ist es ein Zufall, daß seit der friedlichen Revolution von 1989 nicht nur die neoliberale Marktwirtschaft ihren Siegeszug antrat, sondern auch ein neodarwinistisches Verständnis der Privatverhältnisse? Daß in derselben Zeitspanne, in der das wirtschaftliche Wohl und Wehe ganz in die Abhängigkeit von Aktienemissionen und Börsenschwankungen geriet, das zwischenmenschliche Glück zum Spielball schwankender Hormonausschüttungen wurde?

     Tatsächlich gibt es verblüffende Parallelen zwischen dem Turbokapitalismus (der das Marktprinzip zur letzten ethischen Instanz erhebt) und dem neuen Soziobiologismus. Die Bereitschaft, mit der wir den allumfassenden "struggle for life" als gesellschaftlichen Motor akzeptieren - und den Glauben an die Steuerbarkeit sozialer Prozesse aufgegeben haben - trägt Züge eines neuen historischen Materialismus. Fehlt nur noch, daß der Soziobiologismus in die politische Diskussion Einzug hält. Mit Sicherheit ließen sich für den neoliberalen Kapitalismus und seine Ethik gewichtige Argumente mit Hilfe der testosteronellen Logik finden. Von Guido Westerwelle wären hierbei ebenso einschlägige Vorstöße zu erwarten wie von Ferdinand Piech oder - Angela Merkel.

     Der Wille ist stark, aber das Fleisch ist noch stärker: Auf diesen banalen Nenner läßt sich die Ideologie unseres privaten wie gesellschaftlichen Lebens heute bringen läßt. Oder anders gesagt: Klar sind wir für Gleichberechtigung und soziale Marktwirtschaft, aber wir können auch nichts dafür, daß schon die Griechen und Feministinnen von unseren Vorfahren, Jägern und Nestbeschützerinnen, abstammen.

     Kommen wir noch einmal zurück zu Ariane. Eine Party später (diesmal ist es die Habilitations-Fete eines Bekannten) bekundet die ehemalige Kulturjournalistin tatsächlich, nach ihrem Mutterschaftsurlaub eine Stelle in der PR-Abteilung eines amerikanischen Biotech-Unternehmen anzutreten. So ist sie eben, die neodarwinistische Marktgesellschaft: Sie zwingt eine alleinerziehende Mutter (die mehr auf den Erzeuger- als auf den Versorger-Typ gesetzt hat), ihre knallharten Gesetze des Überlebenskampfes zu akzeptieren. Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

     Der Zynismus, der sich in den letzten zehn Jahren gesellschaftlich breitgemacht hat, ist im selben Zeitraum klammheimlich biologisch unterfüttert worden. Die Hilflosigkeit, mit der wir der Gnadenlosigkeit der Marktgesetze gegenüber stehen, entspricht derjenigen, mit der wir uns den Hormonen ausgeliefert sehen. Und so wie die schwierigen Wechseljahre, in die der verrücktspielende Organismus Wirtschaft geraten ist, immer neue Kurpfuscher und Wunderheiler auf den Plan rufen, wird uns alsbald der Biotech-Markt mit ganzen Wellen von Fitmachern überschwemmen. Wer die neue sexuelle Revolution zuende denkt, weiß, daß es im Krieg der Geschlechter bald zu einem Wettrüsten der Hormone kommen wird. Gerade der Feminismus dürfte sich davon große Versprechungen machen: Die Waffen der Frauen können eben auch Biowaffen sein. Dann heißt es: Hormontherapie für alle. Damit Frauen endlich mit Tempo 100 rückwärts einparken können - und Männer auch einmal in ihrem Leben an was Anderes denken. 

 

(Erschienen in "Die Welt")


Plädoyer für den Liebestod

Von Norbert Kron

                                                                                             

Glaubt man den populären Medien, ist das brennendste Problem, das sich den Liebenden von heute stellt, der Seitensprung. Kein anderes Sujet beschäftigt die Illustrierten von "stern" bis "Max" so sehr wie das "Kavaliersdelikt Fremdgehen", die "heimliche Liebe". Schon reagiert der Buchmarkt und legt Titel auf, die sich als Ratgeber zum Thema, ja, als "Anleitung für risikoloses Fremdgehen" verstehen. Die Feststellung, daß der Seitensprung nicht mehr unter moralischen Gesichtspunkten in Auge gefaßt wird, sondern als gesellschaftliches Phänomen, dessen Bedingungen und Folgen pragmatisch beschrieben werden, ist dabei ebenso banal wie wichtig. Nach einer AOL-Umfrage würden über 50 % der Deutschen einen Seitensprung des Partners verzeihen und erst bei Wiederholung an eine Aufkündigung der Beziehung denken; und während nur noch ein Viertel auf Treue besteht, gestatten sich zehn Prozent eine offene Zweierbeziehung. Der Seitensprung ist kein Tabu, sondern längst Teil der Beziehungskultur.

     Der Umstand, daß die Medien den Seitensprung nicht aus moralischen Gründen zu ihrem Gegenstand machen, wirft freilich die Frage auf, warum sonst das Thema derart Hochkonjunktur hat. Natürlich drängt sich zunächst eine soziologische Erklärung auf: Das Fehlschlagen der sexuellen Revolution führte zu einem Revival der Paarbeziehung, ohne daß eine neue Werteordnung an die Stelle des sexuellen Liberalismus getreten wäre; seither bewegt man sich in einer Art doppelt codiertem Raum, in dem allein der institutionalisierte Seitensprung das double bind der Geschlechterwünsche beantworten kann; die Betroffenen bedürfen nun Rat im Umgang mit den sozialpsychologischen Folgen der neuartigen Situation.

     Interessanter scheint mir ein anderer Blickwinkel: Medien sind marktwirtschaftlich gesteuerte Systeme. Wenn der Seitensprung so häufig in ihnen auftaucht, stellt er offensichtlich unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten ein Gut dar, das sich verkaufen läßt bzw. zum Verkauf von Produkten beiträgt. Spätestens seit Michel Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone" wissen wir, daß die Sexualität im liberalisierten Kapitalismus dem "Marktgesetz" unterworfen ist und nach dem Vorbild der Ökonomie verteilt wird: "Der Sex stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise. (...) Wie der Wirtschaftsliberalismus - und aus analogen Gründen - erzeugt der sexuelle Liberalismus Phänomene absoluter Pauperisierung" (1). Der Seitensprung stellt im Rahmen dieses sexuellen Marktgesetzes eine privilegierte Lösung des prekären Verhältnisses von Angebot und Nachfrage dar.

     Für einen Autor, der über die Liebe in unserer Gegenwart schreiben möchte, hat diese Beobachtung besonderen Reiz. Die Hochkonjunktur und Akzeptanz des Seitensprungs hat nämlich, literarisch gesehen, eine fatale Nebenwirkung: Sie bedingt eine Krise des Liebesromans.

     Die Literaturgeschichte des Liebesromans ist eine Literaturgeschichte des Ehebruchs - von Ehebrüchen freilich, die als Ausnahmefall, als Normverstoß inszeniert werden. Gottfrieds Tristan wirbt für seinen Herrn Marke um die Hand von Isolde, um diesen dann zu hintergehen. Die Tragödie von Racines Phèdre beruht auf ihrer verhängnisvollen Leidenschaft für ihren Stiefsohn Hippolyte. Werther konnte nur deshalb zum Inbegriff des schwärmerisch Liebenden werden, weil sein Begehren sich auf eine verheiratete Frau richtet - ein Motiv, das Goethe in den "Wahlverwandtschaften" unter klassizistischen Vorzeichen noch einmal neu bewertet: Jetzt bricht Eduard aus dem harmonischen Lebensbund mit Charlotte aus und verliebt sich hoffnungslos in Ottilie, die sich von dieser ehebrecherischen Leidenschaft abwendet. Im 19. Jahrhundert gipfelt die Tradition in der Trias der fremdgehenden Romanheldinnen: Emma Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, die zu Ikonen des Ehebruchs geworden sind. Jenseits der psychologischen Figurenkonstellation und der konkreten sozialen Bezüge heben diese drei Werke noch einmal das Grundmerkmal des Liebesromans hervor: Große, leidenschaftliche Liebe läuft den Normen des bestehenden Sittengesetzes zuwider, ja, sie lädt sich an ihnen erst auf und ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Mag sie auch noch so irrational und wahnhaft erscheinen, ihr Absolutheitsanspruch steht doch im Kontrast zu einem Partnerschaftsmodell, das auf Konvention beruht, nicht auf wirklicher Liebe. Der Liebesroman zeigt das Aufbegehren des Individuums gegen die gesellschaftlichen Schranken: Jeder Gefühlsausbruch markiert einen Ausbruch aus ihnen, und gerade das heroische Scheitern an den Normen zeigt das Subjekt in seiner kreatürlichen Existenz.

     Der Liebesroman ist also Gesellschaftsroman, woraus er seine eigentliche Anstößigkeit bezieht. Das Aufzeigen des konflikthaften Verhältnisses von Individuum und Ordnung verleiht ihm erst eigentlich Gewicht. Es sind die Normen, die ihn überhaupt ermöglichen, weil sie der Entfaltung des Liebeswunsches Widerstand entgegensetzen. Neben der Ehe gibt es noch andere Modelle, um diesen Widerstand zu inszenieren: die Mesalliance, bei der gesellschaftliche Hierarchien die Vereinigung der Liebenden verbieten, oder - wie bei "Romeo und Julia" - familiäre Feindschaften. Daß die beliebteste Konstellation dennoch die Ehe ist, liegt zweifelsohne daran, daß in ihr Konvention und Begehren zusammenfallen. Hier stellt sich den Liebenden kein der Liebe äußerliches Regelsystem entgegen, sondern eines, das die Liebe selbst reguliert. Im Ehebruch kollidiert die Liebe mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Ordnung.

     Dieter Wellershoff hat in seinem Buch "Der verstörte Eros" aufgezeigt, daß sich die Geschichte des Liebesromans vom 18. bis ins 20. Jahrhundert als ein Prozeß der Emanzipation von den Liebesnormen lesen läßt. Nach und nach werden die Normen gesprengt, die das Geschlechterverhältnis regulieren, wird den tabuisierten und unterdrückten Leidenschaften zum Durchbruch verholfen. War die Auflehnung gegen die Ehe in Goethes Romanen noch den Männern vorbehalten, kommt es Mitte des 19. Jahrhunderts zur Geschlechteremanzipation: "Die sich ihrer Bedürfnisse inne werdende, nach Gefühlswahrheit und Intensität strebende weibliche Subjektivität immer noch einzelner Frauen stößt sich nun an den normativen Grenzen, die bisher von Frauen gegen männliches Begehren verteidigt wurden ... Jetzt revoltieren die Frauen, verstrickt in ihre Widersprüche, gegen die institutionelle Moral, die von den Männern, den Inhabern der gesellschaftlichen Macht gehütet wird" (2). Wenn dabei auch "die großen traditionellen Themen von Liebe, Leidenschaft und Ehebruch mit einem neuen, wirklichkeitsnahen Blick dargestellt" wurden, wurde dennoch immer ein Thema ausgeklammert, das in der modernen Literatur zunehmend zum Hauptgegenstand wurde: "die körperliche Vereinigung der Liebenden" (3). Von Joyce's "Ulysses" über Lawrence' "Lady Chatterley's Lover" bis hin zu Nabokovs "Lolita" und Millers "Wendekreis des Krebses" zeichnet die Literatur, so Wellershoff, die Geschichte der sexuellen Revolution nach oder treibt sie selbst mit voran. Was einst die Rolle der Liebe war, ist Sache der Sexualität geworden. Es ist der Sexus, der nun das utopische Moment von Wahrheit und Absolutheit für sich beansprucht und sich gegen die bürgerliche Sittlichkeit auflehnt. Sexuelle Befreiung meint gesellschaftliche Befreiung.

     So funktioniert das traditionelle Modell des Liebesromans bis in die sechziger Jahre hinein - auch wenn der Begriff selbst dabei immer fragwürdiger wird. Denn die Liebe hat ihre tabubrechende Kraft eingebüßt, ist selbst zur offiziellen Vorgabe bei der Partnerwahl geworden. Sie ist kein Tabu mehr, sondern angestrebte Normalität. An die Stelle der Zweck- oder Vernunftehe ist die Liebesehe getreten, die jederzeit aufgekündigt werden kann, sobald die Liebe endet.

     Doch in den wenigen Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat die Sexualität dasselbe Schicksal ereilt wie vor ihr die Liebe. Der Enttabuisierungsprozeß, den die Literatur mitgetragen hat, erfaßte in den sechziger Jahren auch die letzte Region des Intimen. In Updikes Roman "Couples" wird, so Wellershoff (4), "promiskuitive Sexualität als ein mehr oder minder anerkannter Normalzustand dargestellt"; auch hier spiegelt die Literatur die gesellschaftliche Geschlechterordnung wider. In den neunziger Jahren schließlich ist es Michel Houellebecq, der die neue Geschlechterbefindlichkeit im liberalisierten Kapitalismus als eine Realität beschreibt, die geprägt ist von der "Auflösung des Paares und der Familie, das heißt, der beiden letzten Gemeinschaften, die das Individuum vom Markt trennten"(5). Sämtliche sozialen Schranken, alle Normen und Werte, die das Terrain der Liebe einst regelten, sind verschwunden. Gefühl und Sexualität sind zur Währung im sozialen Geschlechterkampf geworden. Die Zuordnung dieses Humankapitals unterliegt dem Sozialdarwinismus des "Marktgesetzes":      "In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen", schreibt Houellebecq. "In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen".

     Ähnlich analysieren Alexander Kluge und Oskar Negt in einem Kapitel von "Geschichte und Eigensinn" die neuen Privatverhältnisse": "Das kapitalistische Prinzip und sein spezifischer Elan sind in den Beziehungsverhältnissen ... in enormem Umfang tätig." In der Sphäre des Privaten wird nach Kluge und Negt das ökonomische Prinzip, das im öffentlichen Leben herrscht, freilich nicht einfach nur verdoppelt; das Private erhält seine enorme Bedeutungsaufladung im Gegenteil dadurch, daß die Gesellschaft den Menschen keinen sinnstiftenden Rahmen mehr anbietet. Geschäftig wird in den Privatverhältnissen Ersatz gesucht für das, "was das gesellschaftliche System nicht erfüllt. Währenddessen ist der gleiche Elan aus dem ökonomischen System ausgewandert" (6). Der "Zerfall traditioneller Öffentlichkeit" führt zu "einer Art Heißhunger der Beziehungsarbeit, der Glückssuche im Privaten" (7).

     In der deregulierten Ordnung des liberalisierten Kapitalismus, die auf den Tauschwert des Humankapitals ausgerichtet ist, ist es daher gerade nicht die Maximierung von Partnertausch und Promiskuität, die dem freigesetzten Individuum Befriedigung verspricht. Es ist die Liebe, die zur Mangelware wird und Fetischcharakter bekommt. Bis vor kurzem wäre Liebe in Houellebecqs Romanen unvorstellbar gewesen. In "Elementarteilchen" ist sie zwar für beide Hauptfiguren, Bruno und Michel, als eine Art utopischer Bezugsfolie vorhanden, die sich hinter der totalen sexuellen Ausschweifung oder in der Erinnerung an versagt gebliebenes Jugendglück andeutet. An ihre befriedigende Einlösung in der Realität ist aber nicht zu denken. In einem Interview, das ich mit dem Autor im Sommer 2001 führte, äußerte sich Houellebecq entsprechend: "In 'Elementarteilichen' habe ich sogar die These aufgestellt, die Männer seien per definitionem nicht zur Liebe fähig - was so ziemlich die Wahrheit ist, denke ich. Einzig dazu in der Lage ist ein kleiner - übrigens abnehmender - Teil der Frauen. Aber es ist wahr: Die Idee der Liebesheirat ist als Katastrophe anzusehen" (8).

     Umso erstaunlicher, daß Houellebecqs jüngster Roman "Plattform" als "der erste Liebesroman" (9) des Autors präsentiert wird. Und tatsächlich schildert er erstmals eine funktionierende Liebesbeziehung im sexuellen Liberalismus. Der Ich-Erzähler erlebt mit seiner Freundin Valérie "Glück" und "Liebe". Zwar läßt sich für Valérie, die in der Touristikbranche arbeitet, der Widerspruch zwischen privatem Leben und gesellschaftlichem System zunächst nicht aufheben: "Ich bin glücklich mit dir, ich glaube, du bist der Mann meines Lebens, und im Grunde möchte ich mich damit zufriedengeben. Aber das ist nicht möglich: Ich darf mich nicht damit zufriedengeben. Ich bin in ein System verstrickt, das mir nicht mehr allzuviel gibt und von dem ich im übrigen weiß, daß es unnötig ist; aber ich weiß nicht, wie ich ihm entkommen soll" (10). Doch dann finden die beiden eine doppelte Antwort auf das Marktgesetz der Sexualität, eine öffentliche und eine private. Während sie den Aufbau von Sexclubs für Pauschaltouristen planen, die Prostitution also zur legitimen Lösung des Sexualproblems in der globalisierten Marktgesellschaft erheben, grenzen sie sich in ihrer Beziehung immer mehr gegen diese ab. Sie wollen sich in Thailand niederlassen und dort einen solchen Club leiten. Als Paar, das den Partnertausch pflegt und sich dennoch zueinander bekennt, wären sie so gegenüber den Gesetzen des Wirtschaft autark.

     Entscheidend ist jedoch die Schlußwendung, die Houellebecq dieser überraschenden Idylle gibt. Kaum ist der Entschluß zum zweisamen Liebesexil gefallen, explodiert eine Bombe im Sexferienclub, von islamistischen Attentätern deponiert, und reißt Valérie in den Tod. Dabei ist weniger die pessimistische Färbung von Interesse, wodurch die Liebe erneut zur unerreichbaren Utopie erklärt wird. Bedeutsam ist, daß der Roman mit diesem kolportagehaften Ende wieder an die Logik des traditionellen Liebesromans anknüpft, nach der der Tod eines oder beider Liebenden unverzichtbarer Höhepunkt der Handlung ist. Ehebruch als Auflehnung des großen Gefühls gegen die sittliche Ordnung - das ist die eine Seite des Liebesromans. Die andere Seite ist der Tod. Er ist der Preis, der für diesen Verstoß zu zahlen ist. Die absolute Liebe fordert stets ihren Blutzoll. Der Tod ist das Regulativ, das die Gefühlskontrolle wiederherstellt, die durch die Leidenschaft (oder Sexualität) in Frage gestellt wird. Oder an den Kategorien der Marktgesellschaft gemessen: Er ist der einzig gültige Tauschwert der Liebe. Nur wo mit dem Leben bezahlt wird, ist Liebe groß und wahr.

      Auch zeitgenössische Liebesromane ziehen den Tod nicht selten als Gradmesser der Gefühlstiefe heran. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied zur Tradition. Noch deutlicher als bei Houellebecq läßt er sich am Roman eines deutschen Autors ablesen, an Ulrich Woelks "Liebespaare". Woelk beschreibt die Beziehungskrisen mehrerer Ehepaare. Nach rund fünf Jahren Ehe haben die Partner das anfängliche Verliebtheitsgefühl eingebüßt. Als Ausweg aus dem Alltagstrott bieten sich Seitensprünge an. Weit entfernt von den dramatischen Gefühlswallungen, die mit dem Ehebruch in der Tradition des Liebesromans einhergegangen sind, stellt sich ihnen die Realität des Fremdgehens als spielerisches, verwirrendes oder banales Unterfangen dar, das das vermißte sexuelle Glück beschert, bald aber in ein Gefühl der Heimatlosigkeit umschlägt. Die Konsequenzen bleiben im Rahmen des geltenden Beziehungspragmatismus. Man trennt sich, geht sich aus dem Weg. So vage der Begriff der Liebe in diesem Kontext bleibt, so unvorstellbar ist der Tod als Sanktion der Ehebrüche. Und doch macht auch Woelk den Tod noch einmal zum finalen Maßstab der Romanereignisse. Bei einem Flugzeugabsturz kommt einer der Ehemänner ums Leben, ein Ereignis, das gerade in seiner Akausalität Fragen aufwirft. "Niemand war es. Der blinde Zufall" (11). In einer Welt, in der die Liebe zum quotenträchtigen Hauptthema einer Vorabend-Soap geworden ist, deren Storyliner einer der Protagonisten ist, kann nur ein Unfall, ein arbiträres Zufallsereignis, die klassische Dialektik von Liebe und Tod gewährleisten: "Wo die Liebe hinfällt, wo der Tod hinfällt" (12). Am Ende beginnen mindestens zwei Paare von vorn.

     So realistisch und gewitzt Woelk die Beziehungsverhältnisse um die Jahrtausendwende beschreibt: Die Problematik des literarischen Genres zeigt sich an der Art, wie er den Tod als "thanatos ex machina" aus dem Schnürboden seines Romankosmos stürzen läßt. Und nicht anders tritt der Tod auch bei Houellebecq auf. Zwar ist der Terroranschlag in "Plattform" aus der Logik weltanschaulicher Konflike motiviert: Der religiöse Fundamentalismus schlägt gegen den liberalisierten Kapitalismus und seinen globalen Hegemonialanspruch zurück. Wie ein parasitärer Pilz gedeiht die Liebe von Michel und Valérie auf der Grundlage der expansiven Ausbeutung, mit der die westliche Welt ihr exotisches Lumpenproletariat zur Prostitution zwingt. Keine Gefühlswahrheit steht hier gegen die falschen Verhältnisse. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, und erst recht keine richtige Liebe.

     Doch die kolportagehafte Inszeniertheit des Finales springt ins Auge. Allzu erkennbar ist es der fädenziehende Autor, der die Bombe platzen läßt. Der entscheidende Kerngedanke, der den Tod traditionell an die Liebe koppelt, fehlt in der zeitgenössischen Literatur: die Idee der Selbstaufopferung. Im traditionellen Liebesroman hatte der unbedingt Liebende stets zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen: der Liebe ganz zu entsagen oder den Freitod auf sich zu nehmen. Von Werther bis Anna Karenina bleibt den Zurückgewiesenen nur der letzte Schritt. Wo die Liebe Erwiderung findet, aber von den gesellschaftlichen Schranken verhindert wird - wie bei Tristan und Isolde oder Romeo und Julia -, zieht der Tod des einen automatisch den des anderen nach sich.

     Bei Houellebecq und bei Woelk wäre solch ein Finale undenkbar: Die Hinterbliebenen trauern oder delirieren eine Weile. Aber so wie der Tod von außen hereinbricht, erscheint er keinem als Mittel der eigenen Wahl. Oder wie es am Ende von "Plattform" heißt: "Die fehlende Lust am Leben reicht leider nicht aus, um sterben zu wollen" (13).

     Der Gedanke des Verzichts ist der schrankenlosen Welt des Individualismus fremd. Verzicht stört den Konsum, jene unaufhörliche Verschwendung, auf der die Marktgesellschaft basiert. Das gilt auch für das Private und sein "Marktgesetz". Niemand "entsagt" zugunsten höherer Interessen. Der Seitensprung wird akzeptiert. Das eigentliche Tabu ist der Tod.

     Die Individualgesellschaft ist nicht nur auf die Ausblendung, sondern auf die Abschaffung des Todes fixiert. Er ist in der Welt der totalen technischen Machbarkeit der Schönheitsfehler, das letzte störende Problem; an seiner Lösung wird gearbeitet. Er besitzt damit grundsätzlich die Qualität eines "Unfalls". Die hektische Ursachenforschung, die sich an jedes Großunglück anschließt, gilt stets der Suche nach dem Fehler, der das Auszuschließende zuließ. Manisch ist die Gentechnik auf die industrielle Herstellung von Unsterblichkeit ausgerichtet. Aber wenn schon der Tod als letzte zu überwindende Negation begriffen wird - wieviel verstörender müßte erst der Akt der Selbstaufopferung sein, diese radikalste Form des Verzichts? Der Tod ist ein Unfall, der noch nicht zu vermeiden ist. Ein Mord läßt sich aus Affekten oder egoistischen Motiven erklären. Die Selbstaufopferung zugunsten höherer Interessen dagegen ist für die auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Marktgesellschaft das Unbegreifbare schlechthin.

     Wer heute einen Liebesroman schreiben will, der muß über den Tod schreiben - über unser Verhältnis zum Tod. Darüber läßt sich aus der Tradition neu lernen, in der der Tod noch ein Topos des Liebesdiskurses war. In den "Wahlverwandtschaften" sagt Eduard zur sterbenden Ottilie: "Soll ich deine Stimme nicht wieder hören? Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren? Gut, gut! Ich folge dir hinüber: da werden wir mit andern Sprachen reden!" (14).

     Wären wir bereit, für den Geliebten zu sterben? - Vielleicht wäre dies die Frage, die ein Liebesroman heute zu stellen hätte.

 

(Erschienen in "Akzente")

Anmerkungen: 1 Reinbek (Rowohlt) 2000, S. 108. 2 Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2001, S. 108. 3 ebd., S. 189. 4 ebd., S. 278. 5 "Die Welt als Supermarkt", Reinbek (Rowohlt) 1999, S. 86. 6 Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1998, S. 899. 7 ebd., S. 878. 8 "Sprache im technischen Zeitalter", Nr. 157, hg. von Walter Höllerer, Norbert Miller und Joachim Sartorius, Berlin (LCB) 2001, S. 28. 9 Umschlagtext, Köln (Dumont) 2001. 10 ebd., S. 155. 11 Hamburg (Hoffmann und Campe) 2001, S. 422. 12 ebd., S. 426. 13 "Plattform", S. 329. 14 München (dtv) 1963, S. 216.