Gegen das Auseinanderfliegen unserer Gesellschaften - "der beste Bürgermeister der Welt" räumt auf

Überall rennen wir uns den Kopf an mit der Frage, was tun gegen die rechten Spalter, gegen islamistische Verbrecher, gegen das Auseinanderfliegen unserer Gesellschaften. Und dann traf ich einen, der wirklich eine praktische politische Antwort darauf hat. Mitreißend: Bart Somers, der "beste Bürgermeister der Welt". Dazu hat ihn der Weltverband der Bürgermeister 2016 gewählt. Warum?

Bart Somers von der Liberalen Partei, Bürgermeister von Mechelen, kombiniert klassisch "rechte" und "linke" Politikmittel mit Erfolg.

Bart Somers von der Liberalen Partei, Bürgermeister von Mechelen, kombiniert klassisch "rechte" und "linke" Politikmittel mit Erfolg.

Ich treffe Bart Somers in seinem Bürgermeister-Office, einem großen, modernen Büro im 500 Jahre alten Rathaus von Mechelen, und mache mich mit ihm auf Stadtspaziergang. Er ist seit siebzehn Jahren im Amt, und die Menschen - das kann ich sofort live erleben - verehren ihn. Wo er auch hinkommt, wird er angesprochen, vom Geschäftsmann genauso wie von der Radfahrerin oder dem Paar, das gerade geheiratet hat. "Das sind armenische Einwanderer", sagt Somers, "unsere drittgrößte Gruppe nach den christlichen Türken und muslimischen Marrokanern."

Was macht seine Arbeit so erfolgreich? Warum kommt er bei Alteingesessenen und Zuwanderern so gut an?

„Als ich 2001 Bürgermeister wurde", sagt er mir im Interview, "war Mechelen eine kranke Stadt. Sie hatte einen schlechten Ruf, war dreckig und kriminell. Die Mittelklasse wanderte ab. Das Erste, was ich ändern musste: das Vertrauen der Bürger wieder herzustellen. Wer in Stadtvierteln aufwächst, in denen statt des Rechtsstaats das Gesetz des Dschungels regiert, fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen.“

Mechelen um die Jahrtausendwende, eine komplett andere Stadt: Leerstehende Geschäfte, Gangs, die Stadtviertel unsicher machen, 1.500 Autoeinbrüche pro Jahr. Die erzkatholische Stadt hat in den Jahrzehnten zuvor Zigtausende Gastarbeiter für ihre Industriebetriebe herangeholt. Damals leben sie wie in den Nachbarstädten Brüssel und Antwerpen in den Getthos der Stadt. Die Kriminalität ist enorm, Unsicherheit macht sich in den Straßen breit.

„Ich habe in die Polizei investiert, in Kameras, und manchmal eine extrem strikte Nulltoleranz-Politik angewendet, um die Ordnung wieder herzustellen. Aber ich habe gleichzeitig auch die Menschen zu mobilisieren versucht. Ich habe die Sicherheitsfrage nie gegen gewisse Gesellschaftsgruppen ausgespielt, wie die Populisten, sondern im Gegenteil: als Bindeglied.“

Somers setzt auf eine Kombination von rechter und linker Politik - ein Mix aus Rezepten, die normalerweise als unvereinbar gelten, einerseits knallhartes Durchgreifen, andererseits ernst gemeinte Integration. Polizeiteams sind in den Brennpunktvierteln unterwegs, suchen den Dialog, setzen ältere Straßenkids als Hilfssherrifs ein. Selbst Rückfalltäter kriegen eine Chance.

„Wir haben die zwanzig problematischsten Jugendlichen ins Auge gefasst und für jeden einzelnen einen eigenen Polizisten abgestellt. Bei jedem Fehler, den sie machen, werden sie sofort kompromisslos dem Richter vorgeführt. Aber im selben Moment bieten wir ihnen Chancen. Sie sind aus der Schule geflogen? Dann suchen wir ihnen eine neue Schule. Wir glauben fest, dass man mit Zuckerbrot und Peitsche die Einstellung der Leute verändern kann.“

Wenn man heute durch die Innenstadt spaziert, kann man sehen, wie diese Politik aufgegangen ist. Mechelen ist eine wohlhabende Stadt, die Straßencafés sind voll, Boutiquen und Einrichtungsgeschäfte reihen sich aneinander, die alten Fassaden wirken wie aus dem Ei gepellt. Und in den Außenbezirken?

Acht Jugendzentren gibt es in Mechelen, zu einem nimmt mich Bart Somers in seinem Auto mit. Geleitet wird es von Sozialpädagoge Labsir Abdrahman, der selbst Sohn von marokkanischen Zuwanderern ist und ebenso perfekt Flämisch wie Englisch spricht. Abdrahman sagt, dass man die Ghettostrukturen auflösen kann, wenn man die Kinder bereits im frühen Alter zusammen bringt. So dringt man auch ins Wertesystem der konservativsten Muslime ein.

„Vor allem muss man Vertrauen herstellen", erklärt er. "Bei Menschen, die konservativ eingestellt sind, ist das zwar schwieriger als bei fortschrittlichen. Aber wenn sie sehen, dass man gute Arbeit mit den Kindern macht, gewinnt man ihr Vertrauen und damit ihre Herzen."

Somers nickt. Und fügt einen der wichtigsten Gedanken in der Debatte um Europa und den Islam hinzu:

"Man kann viele Verbündete finden, die sagen: Ich bin zwar ein stolzer Moslem, aber ich bin auch ein stolzer Europäer, der an die Aufklärung glaubt. Da besteht kein Konflikt. Diese Menschen bauen die Brücken. Sie brauchen wir.“

Während sich in Nachbarstädten wie Molenbeek, nur eine halbe Stunde entfernt, mehrere hundert Jugendliche dem IS angeschlossen haben, so auch die Attentäter von Paris und Brüssel, hat sich aus Mechelen kein einziger radikalisiert. Natürlich war der Erfolgsweg von Bart Somers kein Spaziergang. In seinem Buch "Zusammen leben" beschreibt er ebenso leidenschaftlich wie ehrlich, wieviel Widerstände er zu überwinden hatte. Und dass seine Politik auch heute kein Selbstläufer ist. Als er anfing, war er 37, heute, mit 54, steht er vor der vierten Amtsperiode. Heute leben in Mechelen Menschen aus 130 Nationen friedlich zusammen, aber die Erziehung zum Rechtsstaat, sagt er, hört nie auf. Wir alle müssen begreifen, dass Integration ein gegenseitiger Prozess ist, der nicht nur von den Zuwanderern zu leisten ist.

Im "Hof van Busleyden", einem wunderbaren Backstein-Renaissance-Palast, ist das Stadtmuseum von Mechelen untergebracht. Dies ist die abschließende Station des Rundgangs, zu dem mich der "beste Bürgermeister der Welt" mitgenommen hat. Der Besuch hat Symbolcharakter. Der einstige Palastbesitzer, der Geschäftsmann von Busleyden, war Humanist und Mäzen und verkehrte mit Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus. Mechelen war zu dieser Zeit der Sitz des obersten Gerichtshofes. Daran erinnert eine Ausstellung, die im Rahmen des Stadtfestivals "Op.Recht.Mechelen" stattfindet: "Call For Justice - Ruf nach Gerechtigkeit". Die Ausstellung zeigt zahlreiche Objekte, die die Idee der modernen Rechtssprechung illustrieren. Worauf diese beruhrt, lernt gerade eine Gruppe von Kindern in einem Museumsworkshop unter Leitung von Siel Meulendijks: nämlich dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Ein Kind hat die Augen verbunden, genau wie die Justitia auf den Gemälden, und diskutiert mit den anderen über Vorurteile.

Bart Somers betont, dass der Gedanke dieser fundamentalen Gleichheit auch für alle gilt: für die, die seit Generationen hier angestammt sind und die erst in den letzten fünfzig Jahren hierher kamen.

„Meine Familie lebt hier seit 14 Generationen. Aber ich bin der Somers der ersten Generation, der in einem multiethnischen Mechelen lebt. Als ich geboren wurde, war Mechelen eine typisch weiße, flämische Stadt. Auch ich musste mich in die neue Wirklichkeit erst integrieren, wenn Sie so wollen. Aber ich bin absolut überzeugt, dass wir damit nur klar kommen, wenn wir alle zu echten Bürgern von Mechelen machen. Ich sage oft: Wir müssen sie für unsere Gesellschaft rekrutieren – damit die Extremisten sie nicht mehr für ihr totalitäres Denken rekrutieren können. Wir müssen für unsere fundamentalen Werte eintreten: Gleichheit und Rechtsstaat, Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Hier dürfen wir niemals nachgeben. Das heißt aber zugleich: Wir dürfen nicht jede unserer Traditionen zu einem Fundamentalwert erheben. Denn dann machen wir den Fehler der Salafisten: Wir frieren unsere Gesellschaft ein, wir sagen, nichts darf sich mehr ändern. Wenn wir so starr denken, zerstören wir die Freiheit. Unsere Gesellschaft ist auf Freiheit errichtet. Freiheit bedeutet Veränderung. Wir haben immer in der Geschichte unsere Einstellungen, Verhaltensweisen und Traditionen verändert, um neuen Chancen Raum zu geben. Also: Gib niemals die fundamentalen Freiheitswerte auf – aber meißle nicht jede Sitte und Tradition in Stein. Sonst würden wir das zerstören, was typisch westlich ist: eine Gesellschaft, die auf Freiheit und Offenheit beruht."

Ich verabschiede mich von Bart Somers und danke ihm für seine Zeit. Der Besuch hat mir gezeigt, dass seine Thesen nicht nur wohlklingende Ideen sind, die sich in Integrationsforen gut machen, sondern auch in der Wirklichkeit funktionieren. Es ist die Aufrichtigkeit und die Leidenschaft, mit der Bart Somers einen mitreisst. Und die einen glauben lässt, dass sich seine Politik nicht nur auf eine Kleinstadt wie Mechelen anwenden lässt, sondern auf die ganze europäische Gesellschaft.

"Zusammen leben - Meine Rezepte gegen Kriminalität und Terror" ist im C.H. Beck Verlag erschienen.

Begegnungen gegen Antisemitismus - und ein neuer Geschichtenwettbewerb

Mein Stilbruch-Beitrag zum Holocaust-Gedenktag ist in der RBB-Mediathek (hier klicken) sechs Monate online.

Mein Stilbruch-Beitrag zum Holocaust-Gedenktag ist in der RBB-Mediathek (hier klicken) sechs Monate online.

Ich mache mich auf Spurensuche. Antisemitismus in Deutschland? In letzter Zeit häufen sich alarmierende Nachrichten, gerade in Berlin: Auf einer Anti-Trump-Demo verbrennen Demonstranten in Neukölln eine selbstgebastelte Israelfahne. In Schöneberg wird ein jüdischer Gastronom auf offener Straße von einem Anwohner übelst beschimpft.

O-Ton unbekannter Berliner: "Du kriegst deine Rechnung. Du kriegst deine Rechnung."  

Keine Einzelfälle, wie Wenzel Michalski von Human Rights Watch aus eigener Erfahrung weiß. Als er mit der Geschichte seines Sohnes an die Öffentlichkeit ging, hörte er von vielen jüdischen Bekannten, dass sie ganz ähnliche Anfeindungen erlebt haben.

Wenzel Michalski, Human Rights Watch: "Mein Sohn wurde an der Friedenauer Gemeinschaftsschule über viele Wochen, über drei Monate hinweg antisemitisch angegriffen. Verbal, aber auch körperlich. Er wurde angerempelt, geschlagen, er wurde gewürgt, es wurde eine Scheinhinrichtung an ihm verübt. Das war für uns ein Schock. Nach dieser Scheinhinrichtung mit einer Replica-Pistole, also mit einer täuschend echten Kopie einer Pistole, haben wir ihn dann von der Schule genommen."

Der Vorfall ist nur die Spitze des Eisbergs in einem deutschen Schulalltag, bei dem das Schimpfwort "Ey, du Jude" immer öfter zu hören ist. Die Schulleitungen scheinen hilflos, wie Wenzel Michalski erfährt, als er den Dialog sucht.

Wenzel Michalski, Human Rights Watch: "Wir wollten an der Schule ja mit denen sprechen. Aber die Schule hat gesagt: Das hat gar keinen Zweck. Es handelt sich da um Moslems. Deswegen brauchen wir da gar nicht da erst gar nicht anzufangen."

Ist der verstärkte Antisemitismus also ein importiertes Islam-Problem? Studien bestätigen, dass die Vorurteile bei Muslimen kulturell verankert sind. Aber gibt es da kein Rankommen? Der junge Islamwissenschaftler Iskandar Abdallah findet, dass man differenzieret vorgehen muss: Den Dialog suchen auf der einen Seite, und auf der anderen: striktes Durchgreifen.

Iskandar Ahmad Abdalla, Salaam-Shalom-Initiative: "Ich kann Gewalt nicht dulden und akzeptieren. Das heißt, da müssen Maßnahmen getroffen werden. Ich weiß nicht, wie diese Maßnahmen an den Schulen normalerweise aussehen, aber: über Strafmaßnahmen oder Noten."

In seiner Freizeit begleitet Iskandar Abdalla Schulklassen zu Holocaust-Gedenkstätten. Damit hat er gute Erfahrungen gemacht. In der aktuellen Antisemitismus-Debatte warnt er davor, die Muslime zum Sündenbock zu machen.

Iskandar Ahmad Abdalla, Salaam-Shalom-Initiative: "Ich glaube, dadurch blendet man den Antisemitismus aus, der in der Mitte der Gesellschaft existiert, der sich nicht immer so verbal und aggressiv äußerst, aber der typisch wie antisemitischer Antisemitismus eher struktureller Natur ist."

Stimmt das? Ist Antisemitismus auch in der angeblich so aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft salonfähig? Statistiken beweisen, dass die Delikte auch im rechten Milieu angestiegen sind. Doch bedrohlicher ist, wie verbreitet Klischees über Juden bei den sogenannten ganz normalen Deutschen sind, meint die Berliner Schriftstellerin Mirna Funk. Sie erlebt das ständig, davon handelt auch ihr Roman "Winternähe".

Mirna Funk, Schriftstellerin: "Mit ist ehrlich gesagt egal, woher der Antisemitismus kommt. Genauso wie wir versuchen müssen, antisemitische Vorurteile und diesen Hass in Deutschland unter Deutschen abzubauen, muss er auch bei Muslimen oder bei wem auch immer abgebaut werden."

Greift die bisherige Gedenkkultur nicht mehr? Brauchen wir KZ-Pflichtbesuche für alle? Mirna Funk hält Erinnerungsarbeit für wichtig - und Gespräche, wie sie sie nun am Berliner Ensemble zum Holocaust-Gedenk-Tag veranstaltet. Doch die Aufklärung müsse noch früher beginnen.

Mirna Funk, Schriftstellerin: "Dann muss auch etwas strukturell in Schulen passieren. Es kann nicht sein, dass man immer nur von Leichen und toten Juden hört und in KZs geht, aber überhaupt nicht erfährt, dass es jüdisches Leben gibt. Und ich glaube auch, dass solche Sachen wie eine Klassenfahrt nach Tel Aviv vermutlich mehr Sinn macht als ein KZ-Besuch."

Wie sehr es hilft, wenn Schüler das bunte, vielseitige Leben in Israel kennenlernen, das weiß Christine Mähler vom Deutsch-Israelischen Jugendaustausch ConAct. 7.000 junge Leute entdecken jedes Jahr das Land und schließen Freundschaften.

Christine Mähler, Deutsch-Israelischer Jugendaustausch: "Die jungen Menschen kommen zusammen, treffen aufeinander und merken erst einmal, sie haben ganz viel gemeinsam, Mode, Musik, Medien. Es gibt gibt ganz viel Verbindendes. Insofern ist es auch ein Anliegen, junge Menschen mit muslimischem oder türkischem Hintergrund in diesen Austausch einzubeziehen. Das ist auch ein Projekt, an dem wir gerade intensiv arbeiten."

Die Erlebnisse, die junge Leute bei Israelreisen machen, können sie nun auf der Website von ConAct veröffentlichen, das Christine Mähler nach dem Vorbild der Anthologie "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen", die Amichai Shalev und ich 2015 herausgegeben haben, mit Hilfe des Familienministeriums realisiert hat. Die besten Geschichten werden im Juni prämiert. Ich finde, Initiativen wie diese müssen unser Holocaust-Gedenken in Zukunft noch viel stärker ergänzen.

 

"What Matters" - 30 famous artists commemorate the 30 articles of the Universal Declaration of Human Rights

30 international writers, artists and students commemorate the 30 articles of the Universal Declaration of Human Rights http://www.literaturfestival.com/ Article 1: Nina Hoss - German Article 2: David Grossman - Hebrew Article 3: Ai Weiwei - Chinese Article 4: Patti Smith - English Article 5: Viktor Yerofeyev - Russian Article 6:

Dreißig berühmte Schriftsteller, Künstler und Schauspieler, die die dreißig Artikel der UN Menschenrechtserklärung in 30 Sprachen lesen: darunter Vivienne Westwood, Patti Smith, Ai Weiwei, Nina Hoss, Wolf Biermann, Martina Gedeck, Can Dündar, Elfriede Jelinek, Nils Landgren, Eva Matthes und David Grossmann. Ein Film von Ulrich Schreiber und mir, der am diesjährigen literaturfestival berlin Weltpremiere hatte. Gregor Dotzauer schrieb im Berliner Tagesspiegel (Link hier klicken): "Leute, steht auf aus eurer Bitternis, so lange euch die Beine tragen! ... Dazu gehört womöglich auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wie sie die UN 1948 verabschiedete. Auf eine Idee von Festivalchef Ulrich Schreiber hin baten er und Norbert Kron 30 Prominente vor die Kamera, um sie in ihrer Sprache jeweils einen Artikel lesen zu lassen. „What Matters“, am Abend erstmals gezeigt und nun auch auf YouTube zu sehen, präsentiert unter anderem David Grossman auf Hebräisch, Herta Müller auf Deutsch, Patti Smith auf Englisch, Petina Gappah auf Schona und Ai Weiwei auf Mandarin."

Der IS-Folterhaft entkommen - und die Terroristen in Deutschland wieder entdeckt: Masoud Aqil ruft Flüchtlinge zur Mithilfe auf

So sieht einer aus, der 9 Monate in der Terrorgefangenschaft des IS saß. Der nordsyrische Journalist Masoud Aqil, mittlerweile 24, fuhr eines Morgens mit einem Kollegen zum Drehen, als Maskierte mit Maschinengewehren ihren Wagen stoppten und beide vor ihre Schariarichter verschleppten. 280 Tage Folter, Drohungen, Todesangst - darüber berichtet er in seinem wichtigen und bewegenden Buch "Mitten unter uns" (Europaverlag). Und über seine lebensgefährliche Flucht nach Deutschland, über die schockierende Entdeckung deutscher Facebookproile von IS-Terroristen, über die notwendige Zusammenarbeit von Flüchtlingen mit den deutschen Behörden.

Ich habe den beeindruckenden, charmant lächelnden, verdammt mutigen jungen Mann für "titel thesen temperamente" interviewt. Der Beitrag läuft heute abend und steht dann (hier klicken!) in der ARD-Mediathek. Hier seine wichtigsten Aussagen.

Über seine Mithäftlinge und die schwersten Momente: 

"Ich habe all die 280 Tage in meinem Kopf. Eines der schwersten Dinge, die es für mich gibt, ist - ich werde meinen Kollegen Farhad Hamo nicht vergessen. Wir waren ein Team. Ich wurde durch einen Gefangenenaustausch der kurdischen Streitkräfte befreit, aber leider wissen wir nicht das Geringste von meinem Kollegen, ob er noch da ist. (Die Worte fallen ihm immer schwerer.) Ich weiß nicht, wie ich diesen Moment beschreiben soll (er sucht nach Worten, stammelt), aber es ist..."

"Es gab einen anderen MItgefangenen, Hagi Issa, dieser junge Mann steht für mich stellvertretend für alle IS-Gefangenen. Er war ein starker Junge, der nicht nur ein Zellenkamerad war, sondern ein Bruder für mich... Er hatte nicht das Glück, einen Austausch zu bekommen. Monate später, nachdem ich nach Deutschland geflohen war, sah ich im Internet ein Video von einer Hinrichtung von fünf Kurden. Sofort erkannte ich, dass es fünf Mitgefangene von mir waren. Das war der schwerste Moment für mein Herz, es hat mich sehr niedergeschlagen. (Sehr schmerzvolle Gesichtszüge.) Zu sehen, wie sie hingerichtet wurden. Während ich in einem sicheren Land bin. Ich war mit ihnen in der Zelle. Ich klagte mich an: Wie kann es sein, dass ich in Sicherheit und Freiheit bin? Warum haben sie nicht das gleiche Schicksal wie ich? Warum sind sie nicht am Leben?"

"Ich denke nicht jeden Tag an sie, das wäre gelogen, aber ich trage sie immer mit mir herum, erinnere mich an die Worte, die wir gesprochen haben. (Er schluckt mehrfach, macht ein schmerzliches Gesicht.) Ich erinnere mich an die letzten Momente mit ihnen zusammen. Ich sehe ihre Augen vor mir, bevor sie getötet wurden. Diese Dinge mit mir herumzutragen (Pause), ist schwer, aber (er blickt weg, sagt langsam) was kann ich tun?"

Über Folter und Todesangst:

"Ich bin durch viele harte Momente gegangen, aber einer der härtesten war, als sie in der ersten Woche schrien, dass sie uns zu einem öffentlichen Platz schicken würden, um uns dort zu enthaupten. Wobei sie die Messer auf unsere Nacken setzten. Da am Anfang war ich geschockt. Später, nach hundert Tagen Gefangenschaft, in denen sie das Tag für Tag gemacht haben, war ich an diese Dinge gewöhnt. Ich begriff, dass das ein Stück der IS-Ideologie ist, immer zu drohen, die Hand, das Bein oder den Kopf abzuschneiden, ohne irgendeinen Grund. Ich erreichte ein gewisses Stadium, in dem ich mir sagte: Wenn sie es tun, werden sie es tun. Später waren die harten Momente die Foltermomente. Sie haben dieselben Foltermethoden verwendet, die in den syrischen Gefängnissen verwendet werden. Sie haben sie dort gelernt. Das Foltern gehört im Nahen Osten dazu. Sie betrachten mich als ihren Feind, und ich bin ihr Feind, also foltern sie mich, das ist normal."

Über IS-Mitglieder im Gefängnis und die Attraktivität von ISIS für westliche Menschen:

"Wir waren mit ihnen die ganze Zeit zusammen in einer Zelle, manchmal auch ich allein, ein IS-Mitglied und ich. Ich nutzte die Zeit, um Fragen zu stellen, um ihre Aussagen mit dem zu vergleichen, was man sich außerhalb über ISIS erzählt. Und ich fand in dieser Zeit heraus, dass IS das benutzt, was man über sie sagt."

"Diejenigen, die dem IS am meisten geholfen haben und die größte Propaganda für sie gemacht haben, waren leider die westlichen Medien. Denn der IS war immer stolz auf das, was die westlichen Medien über sie berichtet haben. Die Medien haben es vielleicht nicht begriffen, aber sie haben den IS als Helden dargesellt. Der IS hat die Berichterstattung immer auf den Smartphones verfolgt und in seinen Städten verbreitet. Die englischen, amerikanischen, französischen und deutschen Fernsehsender haben die Hinrichtungsvideos veröffentlicht, und all diese Veröffentlichungen zeigten den IS als starke Macht. Und das ist der Grund, warum Tausende zu Dschihadisten geworden sind und von Europa nach Syrien gezogen sind. Das war sehr schockierend für mich. Die Medien zeigen ISIS als eine gut organisierte Macht, als Staat, aber das sind sie nie gewesen. ... Sie sind viel schwächer. Sie sind viel größere Feiglinge. Alles, was sie tun können, ist Schrecken zu verbreiten. Wenn die Leute Angst vor ihnen haben, freuen sie sich darüber. Ich hoffe, dass die westlichen Medien das eines Tages begreifen und keine Videos von ihnen veröffentlichen, die sie stark zeigen. ... Ich wusste all das über ISIS auch nicht, hielt sie auch für gefährlich. Aber weil ich die Erfahrung habe, mit ihnen zu leben und mit ihnen als Gefangenen in einer Zelle zu schlafen, wobei ich Stunden lang mit ihnen sprach, über Tage hinweg, weiß ich genau, was ihnen gefällt und wovor sie Angst haben. ... Sie versuchen die ganze Zeit so zu sein, wie man sie in den Videos sieht. Aber so sind sie nicht. Sie leben in Chaos, nicht organisiert. Sie versuchen zu zeigen, dass sie nach den islamischen Regeln leben und ein Staat sind, aber in der Realität sind das alles Lügen. ... Heute, nach meiner Erfahrung mit ihnen, betrachte ich sie als vereinzelte Gangster, eine Art Mafia, eine islamisch-radikale Mafia. Jedermann, der sonst in der Gesellschaft ein Nichts ist, kann in dieser Mafia eine Rolle für sich finden, kann sich den anderen als jemand darstellen, der dem IS loyal gegenüber ist."

"Diese jungen Leute sind idiotische kriminelle Verrückte. Wenn sie gefangen genommen werden, sagen sie immer, dass sie alles bereuen und blablabla. Ich glaube ihnen kein Wort. Ich kenne die IS-Einstellung. Lügen ist für sie etwas Gutes. Diese radikalen Islamisten benutzen Lügen in ihrer Religion, um das eigene Leben zu retten. ... Leider glauben ihnen die Regierungen manchmal. Doch sie sollten von der Gesellschaft ferngehalten werden. Sie sind Zeitbomben und sehr gefährlich. Ich könnte mir niemals vorstellen, neben jemandem in einem Haus zu leben, der aus Syrien kommt und dort mit denen gekämpft hat, die Menschen enthaupten. Ich könnte ihn niemals als normalen Menschen betrachten. Solche Leute sollten von der Gesellschaft entfernt werden, da sie Einfluss haben. Sie sind wie Viren. Das Problem, das wir in der arabischen Welt mit dem Radikalismus haben, ist ein Virus. Und wenn wir sie haben, werden sie Einfluss zu nehmen versuchen. ... Die Toleranz hier gegen radikale Organisationen ist ein Problem. Niemand sollte hier tolerant ihnen gegenüber sein. ... Wenn man ihnen gegenüber tolerant ist , macht mir das Angst, denn diese radikalen Organisationen benutzen unsere Toleranz, um ihr Gift immer weiter in der Gesellschaft zu verbreiten."

Über IS-Gefährder unter Flüchtingen und die Mithilfe von Flüchtlingen bei ihrer Verfolgung:

"Ich weiß, es war keine einfache Sache für Deutschland, fast eine Million Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist ein Problem für die Regierung und die Menschen, aber auch für die Flüchtlinge. Wenn wir alle zwei, drei Monate von einem Flüchtling hören, der ein potentieller Terrorist ist, verletzt mich das sehr. Die Menschen denken, dass ich auch so einer bin. Das empfinden alle Flüchtlinge so."

"Ja, ich habe sie auf Facebook und Twitter entdeckt. Ich bin bestimmt nicht der einzige, aber ich habe mich getraut, darüber zu sprechen. Wer auch immer arabisch lesen kann, kann im Internet entdecken, wieviel gefährliche Leute in den letzten zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind. Sie publizieren unentwegt radikale Gedanken und unterstützen offen ISIS-Mitgleider oder andere radikale Organisationen. Ich begann also diese Leute zu verfolgen. Ich wollte meine Erfahrungen aus dem Gefängnis vergleichen mit dem, was nun geschah. Wenn ich die IS-Anführer hörte, dass sie Dschihadisten nach Europa, Deutschland, Belgien oder Frankreich, senden wollten, hielt ich das nicht für real. ... Aber als ich dann hier war und auf Facebook und Twitter diese gefährlichen Leute entdeckte, begann ich Informationen über sie zu sammeln. ... So konnte ich eine Datensammlung über potentielle Gefährder zusammenzustellen. Ich wünschte, jeder, der Zugang zu solchen Informationen hat, würde es tun. ... Denn wir sollten eine aktive Rolle dabei spiele, das Land und die Gemeinschaft zu sichern. Jeder Flüchtling, der aus seinem eigenen Land in ein anderes geflohen ist, hat die offensichtliche Entcheidung getroffen, dass er dieses neue Land als zweite Heimat ansieht. So wie jeder von uns die Verantwortung hat, sein eigenes Heimatland zu schützen, sollten wir dies in Bezug auf diese zweite Heimat auch so sehen. Von daher habe ich mich dazu entschieden, meine gesammelten Beobachtungen mit den Behörden zu teilen. ... Ich denke, dass jeder Flüchtling das tun sollte. 30 Prozent der Flüchtlinge haben vermutlich jemanden Gefährlichen und Radikalen wieder erkannt. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen, etwas gegen Radikalismus zu tun."

Kulturelle Kriege auf dem Schulhof: Seyran Ates und Shelly Kupferberg diskutieren "Ein Zuhause in der Fremde"

Berliner Buchpremiere: Ein vollbesetzter Saal - kein Wunder bei diesen Gesprächspartnerinnen.

Shelly Kupferberg ist nicht nur eine der besten deutschen Moderatorinnen für kulturpolitische Themen, sie ist auch in Tel Aviv geboren und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Wer wäre prädestinierter als sie, um über die Vorbildfunktion der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv zu diskutieren?

Das ist das Thema der öffentlichen Premiere meines Buches "Ein Zuhause in der Fremde", die im Rahmen der Gesprächsreihe "Don't Forget Dance" in der "janinebeangallery" stattfindet. Um die Brücke zur erhitzten deutschen Integrationsdebatte zu schlagen, ist Seyran Ates gekommen. Die deutschtürkische Anwältin und Autorin, die sich seit vielen Jahrzehnten vehement in Kopftuchdebatten und Menschenrechtsdiskussionen einmischt, hat soeben ihre eigene Moschee eröffnet: ein liberales Gegenmodell zu den Gebetshäusern der konservativ religiösen Islamverbände.

Wegen deren Anfeindungen benötigt sie Polizeischutz. Die muskulösen Männer vom BKA stehen. Sitzplätze sind keine mehr frei.

Shelly Kupferberg: "Die sogenannte Willkommenskultur - könnte man die Energie der vielen Engagierten und Ehemaligen hierzulande nicht fruchtbarer machen?"

Seyran Ates: "Man könnte nicht nur, man müsste es. Ich bin sehr sehr dankbar für dieses Buch. Es gibt Schuldirektoren, die verzweifelt sind. Wir haben Schulen mit 95 Prozent Migrantionshintergrund. Sie fragen sich, wie man deren Potential nutzen kann. Am Ende ist es ein Sammelsurium an Feindseligkeiten, die man erlebt: religiöse und kulturelle Kriege auf dem Schulhof Die Schulen sind extrem überfordert und allein gelassen. Es fehlt an Ideen, aber auch an der Erlaubnis, diese Konzepte umzusetzen. Wir müssen vom Schulsystem die Erlaubnis bekommen."

Shelly Kupferberg: "Wir sind ein Einwanderungsland. Wann sind wir auch eine Einwanderungsgesellschaft?"

"Dann, wenn wir ein Einwanderungsgesetz haben. Erst dann, wenn sich in den Köpfen der Sachbearbeiter und Politiker festsetzt, dass wir als Einwanderungsland mit einem Einwanderungsgesetz die Einwanderung vernünftig regeln wollen. Das Zuwanderungsgesetz sagt nämlich, wir wollen Zuwanderung verringern. Das sagt Artikel 1! Das passt nicht zusammen. Deshalb ist die Philosophie in der Ausländerbehörde - die Migrationsbehörde heißen sollte - kontraproduktiv. Eigentlich sollten auch die konservativen Politiker verstehen, dass wir mit einem Einwanderungsgesetz eine viel bessere Einwanderungspolitik machen könnten. Wir könnten viel viel mehr Forderungen stellen. Es heißt ja nicht, dass wir mit einem Einwanderungsgesetz die Türen aufmachen und jeder kann rein, im Gegenteil. Wir könnten so viel besser Einwanderung steuern, und zwar eine plurale Einwanderung. Was wir jetzt durch das Zuwanderungsgesetz haben, ist eine Ehe- und Familieneinwanderung. Das heißt, wir bekommen die Zuwanderung immer nur aus einem bestimmten Milieu. Deswegen wächst bei uns das konservative, rückwärtsgewandte Milieu, auch aus der Türkei."

Shelly Kupferberg: "Ich frage mich: Welche Rolle sollten Eltern sogenannter bildungsferner Schichten spielen? Wie wird mit denen an deutschen Schulen umgegangen? Und welche Potentiale gäbe es, die mit ins Boot zu holen."

"Es gibt einzelne Projekte, und da sind die wirklich dankbar. Die 'bildungsfernen Eltern' sind sehr daran interessiert, dass ihre Kinder eine bessere Bildung erhalten. Dieses Potential muss man nutzen. Für mich ist es nach wie vor ein Rätsel, warum Deutschland in punkto Bildung so versagt. Ich kann es mir nicht erklären, dass man dabei zuschaut, wie eine Schule nach der anderen aufgrund des hohen Kulturenanteils kapituliert. Das geht so weit, dass manche Lehrer verzweifelt den Lehrerberuf aufgeben. Totale Kapitulation. Ich kenne Leute, die in die Innenverwaltung gehen, ich gehe nicht mehr an die Front. Da ist eine Frau, die sagt, ich bin emanzipiert, ich habe in der Frauenbewegung viel gemacht, wir haben dieses Land schon einmal so weit gebracht - und dann kommt so ein Araber, Kurde oder Türke und sagt zu mir Schnepfe oder Hure, und beleidigt mich: mit Frauen red ich nicht. Und ich soll den Mund halten? Da passieren komische Dinge, die ich nicht kommentieren darf, denn wenn ich das tue, bin ich eine Rassistin?"

Norbert Kron: "Das heißt: Was würden Sie fordern?"

Seyran Ates: "Ich als Lehrerin? Natürlich couragiert sein und sagen: Hey du Hosenscheißer. Ich habe in diesem Land viel dafür getan, dass Frauen mehr Rechte haben, und wenn du das nicht akzeptierst, dann hast du ein Problem. Setz dich hin. Und wenn deine Eltern damit ein Problem haben, dann sollen sie kommen. Es geht darum: sehr viel mehr Haltung zu wahren, Rückgrat. Das hat nichts mit Rassismus zu tun. Ich bin eine Verfassungspatriotin, habe darüber auch ein Buch geschrieben, und dieses Land liebe ich sehr. Warum arbeitet man noch immer daran, dass man Parallelgesellschaften festigt, anstelle dafür zu sorgen, dass wir alle zu dieser Gesellschaft gehören."

Shelly Kupferberg: "Vielleicht liegt es auch daran, dass jahrzehntelang eine falsche Integrationspolitik gemacht habe - oder gar keine. Ich denke, Chancengleichheit besteht in diesem Land immer noch nicht, wenn man in seinem Namen zu viele Ys und Üs hat - anders als wenn man Marlene Schulz heißt. Das erfahren Sie sicherlich auch - während es bei mir vielleicht weniger der Fall ist, weil ich eher eine Schummelpackung bin: Wenn ich durch die Straßen gehe, würde keiner denken, dass ich einen anderen Hintergrund als einen biodeutschen habe. Und dann muss ich auch sagen: Es gibt ein paar Meilensteine, die mir in der ganzen Debatte aufgefallen sind. Ich habe keine Deutschen erlebt, die Kerzen ins Fenster gestellt haben, als es die NSU-Morde gab. Die Sarrazin-Debatte war auch ein ganz schlimmer wichtiger Meilenstein in dieser Negativdebatte. Da haben viele meiner türkischstämmigen Freunde gesagt: Ich fühle mich ganz komisch in diesem Land - jetzt findet wieder so ein 'Othering' statt."

Seyran Ates: "Ja, aber da muss ich auch wieder die andere Seite der Medaille sehen. Mein Neffe sagte, wenn er jetzt sieht, was es von türkischer, muslimischer Seite für Reaktionen in den sozialen Netzwerken auf unsere Moschee gibt, dann kann ich verstehen, dass die Deutschen sagen: Wir wollen damit nichts zu tun haben."

"Was Sie hier beschreiben, ist fantastisch." Seyran Ates über "Ein Zuhause in der Fremde"

"Was Sie hier beschreiben, ist fantastisch." Seyran Ates über "Ein Zuhause in der Fremde"

Shelly Kupferberg: "Was hat die deutsche Gesellschaft demnach verpasst?"

"Wir haben das Einwanderergesetz verpasst. Aber meine Schelte geht nicht zu sehr auf die deutsche Seite. Wir haben hier Kräfte von außen, die hier eine große Rolle spielen. Erdogan hat als erster verstanden, dass hier Wählerpotential da ist. Die Wahabiten aus Saudi-Arabien finanzieren hier die meisten Moscheen. Die Regierung hat ganz viele Glaubensfragen dem Ausland überlassen, weil sie gesagt habe: Die Sache mit dem Islam ist so kompliziert."

Shelly Kupferberg: "Das heißt, hier wünschen Sie sich stärkere Forderungen von Deutschland aus an die Muslime."

Seyran Ates: "Natürlich. Wir müssen Einigkeit darüber haben, dass wir hier eine Demokratie haben, in der Toleranz, Respekt, Akzeptanz der Pluralität gilt. Das ist das, was die meisten Kinder von zuhause nicht verstehen, weil sie nur das Scheuklappendenken mitbringen."

Shelly Kupferberg: "Was für eine innermuslimische Debatte existiert denn darüber?"

"Eben keine. Wir kriegen Morddrohungen. Weil wir sagen: Nein, was ihr als Islam festgelegt habt, akzeptieren wir nicht. Wir wollen einen Dialog. Aber viele Kinder dürfen das nicht. Die kriegen von Zuhause gesagt: Das ist die Wahrheit. Das ist doch schrecklich."

Norbert Kron: "Eine These des Buches ist es: Wir müssen Kindern ein stärkeres emotionales Verhältnis zu Deutschland beibringen. Das gelingt in der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv: Die Kinder fühlen sich dort zuhause und indentifizieren sich mit dem Heimatland, ohne dass dies nationalkonservativ aufgeladen wäre. Die muslimischen Einwanderer suchen sich den Islam als emotionale Heimat, wenn wir ihnen keinen gefühlten Verfassungspatriotismus vermitteln. Ich hätte als vor dreißig Jahren nicht gedacht, dass ich das 'als Linker' mal sage..."

Seyran Ates: "Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mal Imamim werde. Verfassungspatriotismus ist genau das, warum es geht. Nationalstolz will ich nicht. Aber Kinder müssen lernen, was es bedeutet, hier zu leben als Demokraten und die Werte der Verfassung kennenlernen. Sie haben vollkommen recht: Es ist am Ende der Islam, der ihnen eine Identität gibt, ein Zugehörigkeitsgefühl. Das hat Erdogan geweckt: er hat sie emotional umarmt. Ihr gehört zu uns. Ihr seid hier keine Fremden in der Fremde, sondern ihr seid Türken, und wir wissen, dass ihr hier seid. Ihr seid wie auf Auslandsaufenthalt. Diese Kinder müssen wir mit dem Verfassungspatriotismus erreichen. Da bricht einem kein Zacken aus der Krone. Denn unsere Verfassung ist wirklich eine der besten der Welt. Wenn sie die islamische Menschenrechtserklärung von Kairo von 1990 danebenlegen, dann sehen Sie das Menschen- und Frauenbild in der islamischen Welt. 1990 haben 48 islamische Länder unterschrieben: Wir distanzieren uns von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und haben damit die Kluft zwischen uns aufgebaut. Und nach diesem Schema geht auch die Bildung in den Moscheen. Da müssen wir uns nicht wundern, dass eine Gegenaufklärung gegen unsere Verfassung stattfindet."

Shelly Kupferberg: "Und dabei können Sie sich auf etwas ganz Legales beziehen."

Lebhafte Diskussionen nach der Premiere in der "janinebeangallery"

Lebhafte Diskussionen nach der Premiere in der "janinebeangallery"

Seyran Ates: "Man behauptet, dass das von der Religionsfreiheit gedeckt wäre. Aber das ist es nicht. Das ist der Kampf, den ich seit Jahrzehnten führe. Mir wurde immer gesagt: Die Religion hat damit nichts zu tun, es gibt keine Parallelgesellschaften. Wo kann ich beweisen, dass sehr viele Muslime gerade in den Muslimen die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht akzeptieren, obwohl sie es nach außen immer behaupten? Kann ich nur machen, wenn ich in die Moschee gehe, und das haben wir jetzt getan. Wissen Sie, was die Leute am meisten aufregt? Dass Männer und Frauen zusammen beten. Da geht ihnen die Hutschnur hoch. Da wollen sie mich vergewaltigen, da wollen sie auf meine Leiche spucken, meinen Kopf gegen die Wand schlagen, mich erstechen, mich erhängen - alles. Und nur weil Frauen und Männer nebeneinander beten. Weil sie im ganzen Leben nicht so entspannt damit umgehen. So wie Sie hier halbnackt vor mir sitzen... Ihr Mann ist dabei, der lässt das auch noch zu. Nur zwei Sitze weiter sitzt noch ein anderer Mann. Ich weiß nicht, ob hier alle Männer und Frauen, die hier nebeinander sitzen, legal etwas miteinander zu tun haben. Ansonsten hätten Sie nämlich Sina begangen: Unzucht. Ich möchte wissen, wieviel Männer sich Haut von Frauen angeguckt haben. Denn der erste Blick ist ein Zufallsblick, das geht nicht. Aber der zweite Blick ist Absicht, und das ist Sünde. Mit so einem Bild wird in den Moscheen gepredigt. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist das Essentiellste, was wir für die Offenheit und Entspanntheit in diesem Land haben. Mit den Flüchtlingen haben wir jetzt das Problem. Sie kommen aus einem Land, wo die Entspanntheit nicht da war. Wenn man die fragt, ob sie einen Kaffee mit einem trinken gehen möchten, sagen sie: ja, warum nicht? Kaffee trinken kann man ja machen. Für den heißt das: Ja, ich will mit dir ficken. Aber für die Frau heißt es Kaffeetrinken. Und so kommen die Missverständnisse her. Und das wollen viele nicht benennen. Da heißt es nur die traumatisierten Menschen. Natürlich sind sie traumatisiert. Wir dürfen sie nicht gleich mit unseren liberalen fortschrittlichen Gedanken erschlagen. Aber wir dürfen sie auch nicht mit Samthandschuhen anpacken."

"Breaking The Silence": Bestsellerautoren für Palästina

Unter Olivenbäumen, die fünf- bis achthundert Jahre alt sind, sitzt das kalifornische Bestsellerautoren-Ehepaar Ayelet Waldman und Michael Chabon wie in der toskanischen Sommerfrische. Doch der Schauplatz unserer Begegnung ist: Hebron, ein Hügel, von dem ein palästinensisches Gemeinschaftszentrum auf die Altstadt mit den von jüdischen Siedlern okkupierten Häusern hinabblickt. Ihretwegen hat die israelische Armee die alte Hauptstraße Hebrons für alle Palästinenser gesperrt. Für einen TV-Bericht in "titel thesen temperamente", den man in der ARD-Mediathek HIER ansehen kann, interviewe ich die beiden. Was bringt die Schriftsteller dazu, ihre Comfort Zone Berkeley zu verlassen und sich mit der israelichen Besatzung zu befassen?

Chabon: "Wir sind beide Juden und mit Israel eng verbunden. Ayelet ist hier in Jerusalem sogar geboren, sie spricht hebräisch, hat hier gelebt. Aber ganz abgesehen davon finden wir beide, dass man den Mund aufmachen muss, wenn man Ungerechtigkeit sieht, zumal in einer so massiven Dimension."

Waldman: "Das ist wirklich das Wichtigste dabei: Wir sind alle Weltbürger. Wir haben die Verpflichtung, den Mund aufzumachen, wenn wir Ungerechtigkeit sehen. Das bringen wir unseren Kindern bei. Übrigens ein sehr jüdisches Konzept: Tikun alam. Kümmere dich um die Welt. Aber hier heißt es oft: Halt dich raus. Erhebe deine Stimme nicht. Das ist eine Verteidigungsstrategie."

Chabon: "Ich denke sogar, es ist eine Angriffsstrategie. Die ultimative Technik, die Welt zum Schweigen zu bringen und die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Das weisen wir zurück."

Waldman hat eine Reportage über zwei palästinensische Kinder und ihre ungerechte Behandlung geschrieben. Warum?

"Es ist kein Zufall, dass Kinder verfolgt werden. Es ist ein sehr effektives Mittel, die Bevölkerung zu kontrollieren. Mehrere Millionen Palästinenser leben im Westjordanland und weniger als eine halbe Million Siedler. Die israelische Armee ist dazu da, sie zu schützen und den fragilen Frieden zu bewahren. Ja, es ist ein Frieden trotz der Intifida mit den Messerangriffen. Gemessen an dieser Situation sind nur relativ wenige Israelis ermordet worden. Das kann man dem israelischen Militär als Erfolg anrechnen. Aber erreicht hat es das durch kollektive Bestrafung. Jeder einzelne Palästinenser muss sich ununterbrochen überwacht und verfolgt fühlen. Der effektvollste Methode, dies zu tun, ist: die Kinder ins Visier zu nehmen."

Trotzdem. Ich frage mich: Ist die Kritik an der israelischen Besatzung nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Antisemitismus schüren?

Waldman: "Es gibt zwei Seiten dieses Konflikts, keine Frage, und natürlich ist das Ganze mit der Geschichte der Juden in Deutschland verbunden. Aber wir sprechen über die Besatzung, die militärische Besatzung von Millionen Menschen durch eine Militärmacht. Es gibt keine zwei Seiten bei einer Besatzung. Es gibt die Besatzer und die, die darunter leiden. Allem voran glaube ich auch nicht, dass wir das, was hier geschieht, verbergen können. Und wenn wir es nur gut verbergen, was hier im Westjordanland und in Gaza passiert, dann werden alle die Juden lieben. Die Leute haben sich über viele tausend Jahre Gründe einfallen lassen, um die Juden zu hassen. Das, worauf ich als Jüdin am stolzesten bin, ist die Tatsache, dass wir Dinge besser machen können, als wir es tun. Ich glaube aus vollem Herzen, dass es eine gerechte Lösung für den Konflikt gibt. Und ich glaube genauso, dass es eine sofortige Lösung für die Beendigung der Besatzung gibt. Es heißt, man müsse verhandeln und all die komplexen Fragen lösen. Nein: Die Menschen müssen nicht darüber verhandeln, um eine grundlegende Basis ihrer Menschenwürde zu erhalten. Diese verletzt die Besatzung grundlegend."

Chabon: "Ich würde einfach sagen: Gibt es Antisemitismus auf der Welt? Ja, unbedingt. Steigt er an? Sieht so aus. Rechtfertigt unsere Angst vor Antisemitismus die Besatzung? Absolut nicht. Rechtfertigt die Angst unser Schweigen über die Dinge, die Israel tut und mit denen wir nicht übereinstimmen? Auf keinen Fall. Manchmal ist nicht klar, was richtig und falsch ist, aber wenn es um die Besatzung geht, dann ist das eines der ganz wenigen Dinge in meinem Leben, wo ich merke: Das ist offensichtlich, was hier zu tun ist. Es gibt keine zwei Seiten der Besatzung. Es gibt nur die richtige und die falsche Sache."

Dennoch: Was ist mit dem Bedrohungsgefühl der Menschen in Israel? Was mit Terrorattacken und Messerangriffen? Außerdem sind die Methoden von "Breaking The Silence" umstritten.

"Klar gibt es Messerangriffe und Selbstmordattentäter. Breaking The Silence tun etwas ganz Einfaches. Sie legen Zeugnis ab. Jedes Zeugnis ist geprüft, doppelt geprüft, und wird sogar dem israelischen Militär vorgelegt, so dass es sogar mit Zensurbestimmungen übereinstimmt und dass es keine Sicherheitsbedenken gibt. Was sie allerdings tun, ist: die Wahrheit auf die kraftvollste Weise zu zeigen, die es gibt. Das ist die persönliche Geschichte."

Chabon: "Die Anonymität zu kritisieren, heißt, Breaking The Silence für das zu kritisieren, was getan werden muss. Die Privatsphäre der Soldaten muss gewahrt werden. Nur so ist es möglich. Sie können keine Zeugenaussagen machen, wenn sie nicht anonym bleiben."

Waldman: "Die Heuchelei der Regierung ist umwerfend, was Breaking The Silence angeht. Aber ich denke: Diese Heuchelei und die aggressive Reaktion auf Breaking The Silence ist selbst der Beweis, dass die Organisation das Richtige macht. Es wäre nicht so, wenn sie nicht die Wahrheit sagen würden."

Chabon: "Die Sicherheitsbedrohung für Israel ist die Besatzung selbst. Das ist nicht etwa meine Meinung, sondern die Aussage jedes Mossad- oder Schinbeth-Mannes, der in Pension geht und endlich offen sagen kann, was er denkt. Sie alle sagen mehr oder weniger dasselbe: Die größte Bedrohung für Israel ist die Besatzung. Wenn man also die Frage stellt, wer dem Land mehr Gefahr zufügt, dann sind es nicht die Menschen, die sie zu beenden versuchen, sondern diejenigen, die sie aufrechterhalten."

Waldman: "Es sind die Menschen, die dort drüben leben (sie deutet auf die jüdischen Siedlungen): Das ist die Gefahr für Israel."

Chabon: "Und die Regierung unterstützt sie."

Und was ist mit dem Gaza-Streifen? Als die Israelis sich dort zurückzogen und das Land vollständig den Palästinensern überließen, haben diese die Hamas gewählt, die Israel vernichten will und Raketen abfeuert.

Waldman: "Was haben sie ihnen gegeben? Ein Gefängnis. Sie haben ihnen kein Land gegeben, in denen sie handeln können, einen Zugang zu einem Hafen haben, sich ihr Leben verdienen können. Sie schufen ein riesiges, mieses, schreckliches Freiluftgefängnis und sagen nun: Schaut euch an, was sie tun."

Chabon: "Wir haben ihnen ein Gefängnis gegeben und sie verhalten sich wie Gefangene. Wenn ein Kind in Gaza geboren wird, gibt ihm ein israelischer Armeecomputer die Nummer seiner palästinensischen Staatsbürgerschaft. Wer regiert also in Gaza?"

 

Assaf Gavron, dritter von links, bei der Buchpremiere in Jerusalem

Assaf Gavron, dritter von links, bei der Buchpremiere in Jerusalem

Einer, der sich mit Gaza ebensogut auskennt wie mit den jüdischen Siedlern, ist mein guter Freund Assaf Gavron. Der Schriftsteller war in Gaza selbst als junger Soldat während der ersten Intifada stationiert. Und er hat einen Roman über die Siedlungen im Westjordanland geschrieben, für den er lange dort recherchiert hat. Mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee lässt er sich am Esstisch seiner Tel Aviver Wohnung zwischen jeder Menge Kinderspielzeug nieder.

"Die Besatzung ist unser schwierigstes Problem. Wir müssen alles tun, um sie zu beenden. Breaking The Silence ist eine Gruppe von Aktivisten, die ich unterstütze. Und sie brauchen Unterstützung, denn sie wurden als Verräter und Feinde von der israelischen Regierung und der Rechten ins Visier genommen. Sie werden von außen kontrovers gemacht. Man versucht sie zu kritisieren und ihnen die Legitimierung zu entziehen. Man kann mit ihnen streiten und sagen, dass man nicht übereinstimmt, aber sie als indiskutabel zu brandmarken und jenseits der Gemeinschaft anzusiedeln, ist falsch. Warum das so ist: weil sie die Armee berühren. Die Armee war immer Konsens im Land. Wenn sie mit Geschichten an die Öffentlichkeit gehen, die die Leute nicht mögen, ist das schwierig. Für mich wiederum war es leicht. Denn ich war selbst Soldat in den besetzten Gebieten - in Gaza. Ich weiß, dass die Geschichten, die sie erzählen, wahr sind. Dabei geht es nicht um eine einzelne Geschichte, sondern um die Mechanismen, die sie offenlegen. Ich war ein Teil dieser Mechanismen. Für mich besteht kein Zweifel, dass die Geschichten wahr sind, und diese Wahrheit muss erzählt werden."

Worin bestehen die Mechanismen?

"Was vor Ort geschieht, ist das: Da sind 5.000.000 Palästinsner, die auf Gebieten leben, die vor 50 Jahren besetzt wurden. Und da sind jüdische Israelis, die Siedler, die die israelische Armee verteidigen soll. 400.000 insgesamt. Um sie zu beschützen - das ist der Auftrag der Armee -, gibt es offenbar keinen anderen Weg, als die Mehrheit, die dort lebt, einzuschränken. Man hat dafür viele Wege, die Straßenblockaden, unterschiedliche Straßen, ein System, wo man bei jüdischen Feiertagen die Bewegungsfreiheit völlig untersagt: Man kontrolliert fast jeden Aspekt ihres Lebens. Man hat das Recht, in die Privathäuser hineinzugehen und aus Sicherheitsgründen zu beschließen, dass man dieses private Haus mit einer Familie übernimmt. Ich habe das getan als Soldat! Du sagst, es gibt einen Grund für das alles. Und das stimmt. Ich war bei der Armee und alle von Breaking The Silence sind zur Armee gegangen, weil wir unser Land beschützen wollten. Aber die Besatzung dient nicht dazu, unser Land zu beschützen. Es beschützt eine sehr kleine Minderheit - und nicht wirklich die Sicherheitsinteressen Israels. Ich glaube, wenn man die Besatzung beendet, schützt man damit langfristig die Sicherheitsinteressen Israels weit weit mehr."

Und dann noch einmal zurück nach Hebron. Am Tag vorher habe ich mich mit der Schriftstellerin Fida Jiryis bereits in ihrer Heimatstadt Ramallah zu einem Kaffee getroffen. Sie ist im Norden Israels aufgewachsen, dann für einige Jahre nach Kanada gezogen, schließlich aus Heimweh nach Palästina zurückgekehrt. Wo auch immer sie lebte, schreibt sie in ihrem Text, kam sie sich als Mensch zweiter Klasse vor. Nun sitzen wir ebenfalls den alten Olivenbäumen über den Dächern der Stadt. Was geht ihr hier oben durch den Kopf?

"Die Leute hier oben müssen den Hinterzugang nehmen, um zu ihrem Haus zu kommen. Sie werden immer mehr unterdrückt. Es gibt keine Hoffnung am Horizont. Fünfzig Jahre Besatzung ist eine lange Zeit. In meinem Essay sage ich: Die Palästinenser tun Israel einen kolossalen Gefallen, indem sie dies Besatzung nennen. Denn eine Besatzung ist per definitionem zeitlich begrenzt. Nach einem halben Jahrhundert, mit einer halbe Million jüdischer Siedler und Hunderten Siedlungen, ist der Begriff Besatzung weit überdehnt. Das macht die Bedeutung dieses Buches noch größer, weil so viele Leute sich schwer tun zu verstehen, worüber wir wirklich sprechen. Aber die Tatsache, dass internationale Schriftsteller, die weltweit ihre Leser haben, mehr oder weniger nun die gleiche Geschichte erzählen, ist eine starke Hilfe."

Kannst Du an einem Beispiel erläutern, worin die Unterdrückung besteht?

"Weil wir ohne Flughafen von Export und Import abgeschnitten sind, hängen wir massiv von Israel ab. Wir sind der größte Exportmarkt für Israel. Man hält uns als Geisel und setzt seine Produkte bei uns ab. Wer im Westjordanland irgendeine Art von Handel betreiben will, muss sich riesigen Herausforderungen stellen, denn man ist verkrüppelt in bezug auf freie Bewegung und freien Handel. Ein Riesenproblem ist dabei die Gesundheitsversorgung, weil uns die palästinensischen Behörden diese nicht bereitzustellen vermögen. Was wiederum an den großen Einschränkungen, die uns auferlegt werden, liegt. Der Vater einer Freundin von mir hatte einen Herzanfall und musste für bessere ärztliche Behandlung zum Qualandia Grenzübergang, wo er dann vier Stunden lang im Krankenwagen herumlag. Wir sprechen über jemand, der zum Überleben einen Bypass benötigte. Die Soldaten haben nur gesagt: Wir haben noch nicht die Papiere von der zuständigen Stelle. Diese unmenschlichen Dinge, die im tagtäglichen Leben passieren, bedeuten, dass Israel vier Millionen Menschen in fast jedem praktischen Aspekt ihres Lebens als Geisel festhält."

Andererseits höre ich immer wieder, dass die internationale Staatengemeinschaft Palästina seit vielen Jahren riesige finanziellen Hilfen gewährt - und davon nur wenig bei den normalen Menschen ankommt. Während unter den Politikern große Korruption herrscht.

"Ja, die Korruption existiert in Palästina wie in jedem anderen arabischen Land und vermutlich in jedem großen Land überhaupt. Aber der Punkt ist: Wir sollten grundsätzlich nicht von Hilfsgeldern abhängig sein. Wir sollten uns selbst ernähren können, dann wäre Korruption eine interne Sache. Dass wir noch immer von internationaler Hilfe abhängen, ist ein Desaster. Wenn sie morgen enden würde, würde die Hälfte der Menschen hier verhungern."

Macht das Buch, das jetzt erscheint, dir irgendwie Hoffnung?

"Wir sind zerspalten. Als Nation finden wir unseren Weg nicht wirklich vorwärts. Aber dieses Buch gibt mir wirklich Hoffnung in dem Sinn, dass unsere Situation der internationalen Gemeinschaft besser bekannt wird. In unserem Fall spielt diese mit Karten, die uns wirklich betreffen. Weil sie Israel Hilfe gibt, uns Hilfe gibt und die internationalen Beziehungen beeinflusst. Das Andere ist: Ich bin wirklich hoffnungsvoll, weil wir viele jüdische Leser und Israelis erreicht haben, die unsere Situation verstehen und uns zu helfen versuchen. Das hat enorme Bedeutung. Ich glaube stark, dass die Lösung am Ende von uns allen hier kommen muss. Und dass keine Kraft von außerhalb wird sie uns aufzwingen können. Am Ende wird es eine Kombination des äußeren Drucks sein und des Drucks aus dem Inneren der israelischen Gesellschaft, die zu einer Lösung findet."

Richard Gere: Are we in a new Civil War?

Einen Tag, nachdem Richard Gere das Bundeskanzleramt besuchte, sprach ich mit ihm anlässlich seines neuen Films "The Dinner" über die gegenwärtige Politik, die Angst um die Zukunft der Kinder, seine Rolle als Sexsymbol. Auszüge:

„Why did you want to meet Angela Merkel? Because she is the new Dalai Lama of Europe?“

„She is an extraordinary person. Certainly in this world, certainly in the US with complete chaos and with a non leader. She has a lot of responsability. Somehow she is the last one standing – who is thoughtful, responsable, soft spoken, empathatic. And makes difficult moral decisions.“

„Are we in a new civil war? Your new film has a lot of references to the american Civil War."

„Ya, I mean our civil war never stopped. It is brother against brother. Your wars in Europe are in a way wars of civilization. Is it within in our families? is it within our nation? Or is it wider than that? Do we have planetarian universal responsibilities? And I think we do."

"In the film two sons turn into barbarians. You have a son who’s third name is Jigme which means fearless. Many parents are fearful for the future of their children. How personal is this film?”

"I’m thinking of my own parents who were fearful of my life. When I decided to become an actor they had no reference for it. And they thought can he support himself? What’s his life gonna be like? Is he gonna be miserable? We’re usually fearful of which we have no reference for. And if we have sinister leaders who exploit that fear, the planet is in a lot of trouble. We have a lot of leaders running around who exploit fear and ignorance.”

“What did your parents think when you became the sexsymbol of a generation?”

“Oh, that doesn’t mean anything. That’s stupid stuff.”

"Sind Muslime die neuen Juden?" - Eine orientalische Liebesgeschichte in Kanaan Berlin

So kennt man ihn, provokative Brücken schlagend: Armin Langer, den Mitbegründer der "Salaam-Shalom"-Initiative, die ich seit zwei Jahren auch unterstütze. Armin Langer hat das Buch "Ein Jude in Neukölln" veröffentlicht, das von seinem Kampf gegen Vorurteile und Rassismus in seinem Kiez erzählt, und stellt darin tatsächlich die Frage: "Sind Muslime die neuen Juden?" In meiner Gesprächsreihe "Don't Forget, Dance" hat er es in der "janinebeangallery" vorgestellt und seine Thesen mit dem israelischen Dichter Mati Shemoelof und dem syrischen Musiker Hassan Abdul Fadl diskutiert. Dabei kam es auch zu einem ganz wunderbaren musikalischen Brückenschlag, als Hassan Abdul Fadl zusammen mit seinem israelischen Musikerfreund Gidi Farhi vom "Berlin Oriental Ensemble" Musik machte. Alles orientalischer Friede Freude Eierkuchen? Wäre da nicht die provozierende Frage von Armin Langer im Raum gestanden... Muslime als die neuen Juden: Was gab es bei meinem Facebook-Post am 25.11. darauf gleich für erregte Kommentare! 

Rückblick zum Verständnis: Vor einem Jahr habe ich den Besuch einer "Salaam-Shalom"-Gruppe (darunter auch Armin Langer) am Neuköllner Ernst-Abbe-Gymnasium mit ins Leben gerufen und darüber für RBB-"Stilbruch" berichtet - unter folgendem Link kann man den Beitrag anschauen: http://www.rbb-online.de/stilbruch/archiv/20151210_2215/initiative-shalom-salaam-berlin-neukoelln.html. Damals stellte sich heraus, dass viele muslimische Schüler des Gymnasiums sich tatsächlich in einer historischen Wiederholungsschleife fühlen, d.h. auf ähnliche Weise diskriminiert, wie sie es über die jüdischen Deutschen in den 20er und 30er Jahren gehört haben. Die Schülerin Amnira Quandoul sagte:

"Ich laufe manchmal durch die Straße, und kleine Kinder - das ist mir wirklich passiert - stehen vor mir und sagen: 'Hast du eine Bombe unter deinem Gewand?' Ich stehe da und weiß nicht, was ich sagen soll, weil ich sehe, dass sich die Geschichte wiederholt. Und ich kann nichts dagegen machen. Aber diese Initiative zeigt, es ist ein Anfang. Und wir fangen langsam an, gegen diesen Islamhass und gegen Antisemitismus anzugehen."

Natürlich lässt sich endlos darüber streiten, ob man Antisemitismus und Antiislamismus als strukturähnlich ansehen darf oder ob der Holocaust das nicht verbietet. Was Armin Langer und die "Salaam-Shalom"-Initiative aber aufzeigen, ist, dass Neukölln keine "No Go Area für Juden" ist, wie das in den Medien kolportiert wurde, sondern dass es ein problemloses Mit- und Nebeneinander von Arabern und Juden, Muslimen und Szeneberlinern, Israelis und Herkunftsdeutschen gibt, die sich offen einander gegenüber stehen. Oder wie Dina Nourej von "Salaam-Shalom" er formulierte: 

"Es gibt gerne die Angst machenden Nachrichten. Ich sage nicht, dass hier nichts Schlimmes passiert, wie vielleicht auch in anderen Vierteln. Aber ich fühle mich hier immer sehr willkommen. Wenn ich in einen Laden reinlaufe, werde ich herzlich begrüßt. Und mich fragt keiner, trägst du einen Davidstern oder hast du irgendwo einen Mond tätowiert. Es ist egal."

(c) Sandra Höhne

(c) Sandra Höhne

Dieser orientalischen Liebesgeschichte in Berlin wollte ich mit einem Gesprächs- und Musikabend noch einmal nachgehen. Durch viele Israelis und Syrer, die in den letzten Jahren in die Stadt gezogen sind, ist das multikulturelle Klima in Berlin noch einmal vielfältiger worden. Juden und Araber leben Seite und Seite, essen in den gleichen Hummus-Imbissen, machen sogar zusammen Musik. Alles nur eine Illusion? Oder kommen Araber und Juden tatsächlich nirgendwo so gut miteinander klar wie in Berlin?

Mein Freund Mati Shemoelof las zwei Gedichte zum Thema und bestätigte, dass er die Gemeinsamkeiten hier viel komplexer findet, als es die Medien abbilden: "Die Medien denken in Kategorien. Für mich ist es ein Gnade, hierher zu kommen und Menschen zu treffen, die aus Syrien, Jordanien, Gaza stammen. Ich lebte in Israel und konnte in Tel Aviv keine Menschen aus Jordanien treffen, ich musste dorthin fahren. Für mich ist es ein großes Wunder, ohne die Mauer zu leben, die Israel und Palästina trennt."

Gidi Farhi und Hassan Abul Fadl, die sich vor sieben Jahren über ein Benefizkonzert für Gaza kennengelernt haben, betonten beide, dass sie nirgendwo sonst auf der Welt miteinander Musik machen könnten. Hassan Abul Fadl: "Es ist die Möglichkeit, ein offenes Leben zu haben. Ich kenne ihn und lebe, wie ich möchte. Das ist meine Entscheidung. Hier bietet uns Berlin viele Gelegenheiten. Das ist für beide Seiten gut. Es dauert noch ein paar Jahre mit dem Nachwuchs von uns. Den wir adoptieren oder weiter produzieren."

Zum Schluss noch einmal die Frage an Armin Langer, den Philosophen, Theologen und Provokateur: Es ist also wirklich eine orientalische Liebesgeschichte, die sich hier abspielt - vielleicht kein Paradies, aber -? 

Armin Langer: "Es ist kein Paradies, es ist ein Kanaan - ein kleines Kanaan. Ich benutze absichtlich dieses Wort, denn es gibt nämlich in Berlin einen Hummus-Laden, betrieben von einem Israeli und einem Palästinenser, und der Name des Ladens ist Kanaan."

Na denn: Don't Forget, Give PEAS a Chance: Eat Hummus and DANCE!

(Der Abend fand am 25.11.2016 in der "janinebeangallery", Torstraße 154, Berlin-Mitte statt.)

 

"Der Terrorist kann unsere Demokratie nicht kaputt machen, das machen wir selbst" - Interview mit Ferdinand von Schirach über "Terror"

Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Soll ein Kampfpilot ein Passagierflugzeug abschießen, um zu verhindern, dass ein Terrorist dieses auf ein vollbesetztes Fußballstadion stürzen lässt? Wie weit können oder müssen wir über unsere Grundrechte hinweggehen, um uns gegen einen Terrorismus zu schützen, der unserer freien Gesellschaft den Krieg erklärt hat?

Darüber habe ich mit Ferdinand von Schirach eines der ganz wenigen Interviews geführt, die der Bestsellerautor überhaupt gibt. Der ehemalige Strafverteidiger, der in seinen Büchern auf einzigartige Weise die Abgründe der menschlichen Seele und die moralischen Fragen beleuchtet, die sich hinter Verbrechen auftun, stellt das eingangs geschilderte Szenario in seinem Erfolgsdrama "Terror" zur Diskussion, das in über vierzig Theatern in Deutschland aufgeführt wurde. Das Urteil in dem Gerichtsverfahren, das auf der Bühne stattfindet, fällt am Ende nicht der Richter im Stück: Die Zuschauer im Saal müssen selbst abstimmen. Selbiges tun nun auch die Fernsehzuschauer bei der Verfilmung des Dramas mit Florian David Fitz, Martina Gedeck, Burghart Klaußner und Lars Eidinger in den Hauptrollen. Die Ausstrahlung ist in der ARD am Montag, 17.10.2016, um 20:15 Uhr zu sehen: http://www.daserste.de/unterhaltung/film/terror-ihr-urteil/index.html

Ich treffe Ferdinand von Schirach im "Grosz", einem mondänen Restaurant-Café am Berliner Kurfürstendamm, in das er gern geht. Er ist ein ebenso freundlicher wie distinguierter Mann, der als leidenschaftlich diskutierender Mahner auftritt - und der eine überraschend klare Position in der Urteilsfrage des Stückes einnimmt:

"Ich selbst, ja natürlich, bin der Ansicht, dass der Pilot klar verurteilt werden muss. Aber darum geht es nicht, welcher Ansicht ich bin. Es geht wirklich darum, dass die Leute drüber nachdenken, und das Schöne ist, wenn sie darüber diskutieren und danach streiten - und nicht nur überlegen, wohin gehen wir essen? Mehr kann man nicht erreichen. Die Argumente sind ja von Verteidiger und Staatsanwältin nicht einfach. Man schwankt dauernd. Man kann beide Ansichten vertreten. Es gibt auch in den großen Rechtssystemen Unterschiede. In Amerika würde eher der Verteidiger Recht erhalten. Im lateinischen Recht ist es umgekehrt, wir haben als oberstes Prinzip den Begriff der Würde und bestimmen die meisten Dinge danach. Ich bin der Meinung, dass man das Recht über die Moral stellen muss. Wenn wir die Flüchtlingskrise nehmen, dann hat die Kanzlerin aus moralischem Impetus gehandelt, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie damit gegen Recht verstoßen hat, weil sie kein Mandat des Bundestags hatte. In dem Fall finden wir das alles richtig - es ist gut, dass geholfen wird. Aber es rächt sich, beim nächsten Mal ist es jemand anderes, der sich über das Recht erhebt. Deshalb ist es gefährlich, deshalb denke ich, dass der Pilot veruteilt werden müsste."

Aber gelten unter den Umständen, die das Stück aufwirft, nicht andere Bedingungen? Viele Politiker führen an, dass wir uns in einem "Krieg gegen den Terror" befinden...

"Es ist gefährlich von Krieg zu sprechen, denn das Kriegsrecht ist eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung gemacht. Wenn Sie sagen, wir befinden uns im Krieg mit dem Terrorismus, dann ist die Welt Kriegsgebiet, dann gelten hier in diesem Café Kriegsrechtszustände, mit der möglichen Tötung von Kombattanten. Das ist das Gegenteil von dem Staat, in dem ich leben will. Terrorismus ist ein Angriff auf die Gesellschaft, daran besteht kein Zweifel, und der Rechtsstaat muss wehrhaft und stark sein und die Bevölkerung schützen. Aber er darf die Sicherheit nicht auf Kosten der Freiheit erlangen. Ein bisschen Sicherheit muss sein, aber die Kosten dürfen nicht zu hoch sein, sonst ist der Staat nicht mehr das, was er selbst verteidigt."

Was bewegt Ferdinand von Schirach persönlich an dem Fall? Warum setzt er sich mit solcher Verve für den Rechtsstaat ein? 

"Aus der Geschichtskenntnis. Sie müssen sich unsere Geschichte anschauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Demokratien nicht in Stein gemeißelt sind, sie geraten durch die Demokraten selbst in Gefahr. Der Terrorist kann unsere Demokratie nicht kaputt machen, das machen wir selbst, indem wir anfangen, unsere Bürger zu überwachen, ihre Freiheit zu beschränken. Nehmen wir etwas so Simples: die Überwachung unseres Fernmeldeverkehrs. Es gilt der Grundsatz, dass wir den Verdächtigen überwachen. Jetzt überwachen wir alles und schauen mal, ob es verdächtig ist. Das ist eine Umkehrung rechtsstaatlicher Bedenken. Es ist eine Beschränkung der Freiheit. Man muss den Anfängen wehren. Die Überwachung ist auch keine Kleinigkeit, weil wir nicht wissen, was die Geheimdiesnte damit machen. Man hat als Zeitungsleser den Eindruck, das ist ein Staat im Staat. Die unterwerfen sich keinen Regelungen mehr. Wir können sie nicht kontrollieren. Das ist irrsinnig gefährlich. Weil wir es ja schon erlebt haben. In Diktaturen. Wir erleben es überall auf der Welt in Diktaturen. Das ist der Impuls. Das ist meine Angst."

(Das Gespräch fand zur Dresdner Inszenierung unter der Regie von Burghart Klaußner für MDR artour statt.)

In Bed With Putin - Wie nahe können sich Russen und Deutsche kommen?

Ein provokativer Abend. Kann man Potenzpräsident Putin mit Steinmeierscher Kuschel-Diplomatie stoppen? Ist der anarchische Widerstand von Pussy Riot und Co. mehr als Sexsymbolik? Oder hatte Putin mit der Krim-Annektion am Ende gar recht?

Es war der Auftakt zur Gesprächsreihe "Don't Forget, Dance" in der "janinebeangallery": Anlässlich der neuen Ausstellung der in Moskau geborenen Malerin Inna Artemova diskutierte ich eingehend mit dem "Tagesspiegel"-Journalisten Nik Afanasjew, der soeben von einer zweimonatigen Russland-Reise zurückgekommen ist. 

(c) Sandra Höhne

(c) Sandra Höhne

Potenzpräsident Wladimir Putin hat die westliche Welt in einen Neuen Kalten Krieg hinein gesteuert. Das ist das gängige "Narrativ", das man sich in Deutschland und Europa über die Politik Russlands erzählt. Die völkerrechtswidrige Annektion der Krim, die Allianz mit Diktator Assad im Syrien-Krieg und eine grundsätzlich nicht rechtsstaatliche Machtausübung, so heißt es immer wieder, "haben das Verhältnis zum Westen verschlechtert". Die Folge: Wir Europäer fühlen uns bedroht, reagieren mit Angst. "Don't Forget, Dance" will an diesem Abend dieses Narrativ hinterleuchten. Wie nehmen die Russen das Ganze wahr? Wozu dient unsere westliche Angst?

Nik Afanasjew ist 1993 im Alter von zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Die Eltern haben die Einreisemöglichkeit als russische Spätaussiedler wahrgenommen und sind ins Ruhrgebiet gezogen. Während der Vater, so Afanasjew, weiterhin viel russische Medien konsumiert, ist der Sohn, der als Journalist in Berlin arbeitet, mit der deutschen Perspektive aufgewachsen. Um diese zu hinterfragen, ist er in diesem Sommer zwei Monate lang durch Russland gereist, von der Krim über Moskau bis nach Novosibirsk und Tscheljabinsk, seine Heimatstadt. Über die Erlebnisse, vor allem über die vielen Gespräche, die er mit Menschen der verschiedensten Art gemacht hat, hat Nik Afanasjew ebenso pointierte wie humorvolle Reportagen geschrieben: 

"Die Russen wollen vor allem wissen: 'Was denken die Deutschen von uns?' Wenn ich dann sage, dass ihr Urteil durch die Ukraine-Krise stark gelitten hat, sagen sie: 'Wir haben euch doch die Wiedervereinigung gegönnt. Warum gönnt ihr uns unsere nicht?' Und: 'Kennt ihr euch mit Geschichte nicht aus? Lest ihr nicht?' Manchmal auch, sehr ungläubig: 'Glaubt der Westen wirklich, Russland will jemanden angreifen?'"

Das ist die erste wichtige Erkenntnis dieses Abends: Wer sich unter Russen begibt, schaut in Bezug auf den "Neuen Kalten Krieg" in einen Spiegel, erkennt sich in diesem Spiegelbild selbst. In diesem Spiegel ist es nicht Putin, der das Klima zwischen dem Westen und Russland auf neuen Konfrontationskurs gebracht hat - es ist der Westen, Amerika und die Nato, die Russland bedrohen und Russland zur Notwehr zwingen. Mit dem Rücken zur Wand hat Putin sich die Krim gesichert.

Deutschland, so Afanasjew, wird in diesem Zusammenhag nur als Marionette des Westens wahrgenommen. Man bedauert Merkel für ihre Flüchtlingspolitik. Erstaunlich ist vor allem, welch einhellige Meinung Afanasjew in Russland vorgefunden hat. Wo er auch hinkommt, decken sich die Ansichten, der Ural tickt nicht anders als die Hauptstadt. Während sich in ganz Westeuropa die Gesellschaften polarisieren und in zwei kaum versöhnbare Lager spalten, in rechte Nationalkonservative und sozialdemokratische Mittelinke, zieht Russland an einem Strang. 

"Es gibt ganz klar diese Mehrheitsstimmung. In Russland verläuft die Linie anders, zwischen der Gesellschaft und dem Familiären. Die Leute ziehen sich eher ins Familiäre zurück", sagt Nik Afanasjew. "Es gibt die eine übergeordnete Idee von Nationalstolz und dann die eigene Familie. Das große Dazwischen, um das man ringt und das in Deutschland viel die Politik ausmacht, das kommt da nicht so richtig vor."

Dies liegt nicht nur daran, dass es keine diskursive Zivilgesellschaft gibt - und erst recht keine relevante Intellektuellen- und Kunstopposition, die in den deutschen Medien immer so große Aufmerksamkeit findet ("Pussy Riot"). Es liegt an einer Mehrheitszufriedenheit, die auch wirtschaftlich fundiert ist, aber vor allem in einem russischen Patriotismusgefühl wurzelt. Russland empfindet sich als Wertegemeinschaft, in der die Welt in Ordnung ist. Während der Westen in einem riesigen, dekadenten Werterelativismus versinke. 

Das passt zu den Analysen von Dimitri Trenin, dem Direktor des Carnegie Moscow Center, den der ZEIT-Journalist Theo Sommer vor kurzem zu Putins Politik befragte. Sommer resümiert in einem Artikel, dass Putins Hinwendung zum Christentum dem Westen "die Werte der 'russischen Welt' entgegen[setze]: die Heiligkeit der Familie, die Verwurzelung im orthodoxen Glauben, einen gänzlich auf den Staat zentrierten Patriotismus." Wobei er als opportunistischer "absoluter Monarch" letztlich der Stimmung im Volke folge. 

Ob sein Vater seine Reportagen lese und was er davon halte, will Thomas Brussig am Ende aus dem Publikum von Nik Afanasjew wissen. "Ja, die Sachen wurden ins Russische übersetzt. Aber irgendwann sind alle Argumente auch ausgetauscht. Alle paar Monate streite ich mit ihm, aber es passiert nichts Neues, was das Ganze auf den Kopf stellen würde."

Fazit von "Don't Forget, Dance": Die westliche Perspektive ist nicht weniger "ideologisch verblendet" als die russische. "Unser" Interesse am Narrativ vom "bösen Putin" liegt in einer globalkapitalistischen Logik, glaubt auch Nik Afanasjew, gegen die Russland tatsächlich zur Reaktion gezwungen werde. Die gute Nachricht dabei ist, dass Putin und die Russen nicht die genuinen Kalten-Kriegstreiber sind, als die sie das westliche Narrativ immer wieder beschwört, sprich: dass sie uns weit weniger Angst machen müss(t)en, als die Nachrichten es tun. Die schlechte Nachricht ist, dass das nichts am Missverstehen zwischen beiden Seiten ändert, sprich: dass sich zwei gegensätzliche Narrative spiegelbildlich gegenüber stehen, die sich im Augenblick kaum vermitteln lassen. 

Wenn der Kalte Krieg nicht in einen echten Krieg übergehen soll, dann bedarf es - so sagt Dimitri Trenin vom Carnegie Moscow Center - europäischer Diplomatie. Deutschland prostituiert sich also keineswegs, wenn es mit Putin ins Bett steigt. Was von manchen als Steinmeierscher Kuschelkurs wahrgenommen wird, ist in Wahrheit diplomatische Weltenrettung. In den Geschichten von Nik Afanasjew schlummert die Kraft des Hinhörens, des Perspektivenwechselns und des Verstehens, die die Grundlage dafür ist. Bravo. 

Die Veranstaltung fand statt: "janinebeangallery", 13.9., Torstraße 154, 10115 Berlin, Beginn: 20 Uhr. 

Consolation in the Holy Land: Nir Baram strikes for a paradigma change

My friend Nir Baram is angry. Also about himself. Just one day before, there was a knife attack at the sea promenade of Tel Aviv. One man killed. The bubble life of the city continues as if nothing has happened. How can Israelis buy appartments and raise children although they have lost any idea of how the israeli-palestinian conflict can be solved?

"I'm afraid. Now I have a son, eleven months old. And last time when on Dizengoff the attacker disappeared, I felt totally different from any stage in my life. To be honest: Until they found the terrorist, I didn't want to take my son out of the house. I wasn't afraid myself. But I have a baby now. I understand now better this kind of fears. Is it possible to continue on this route? I think it's only going to get worse. Like someone says at the end of my new book: There will be violence and quiet and violence and quiet and then bigger violence and - quiet. This ist the future."

His new book is a milestone in the peace discussion. In Israel a no 1 bestseller, it's the best book I have ever read on the "Land der Verzweiflung" (Hanser) how the german edition is called. We meet in Nir's favourite café, the café in which we met also for the first time in Tel Aviv, eight years ago. The name of the place is Nechama Vechatzi, "consolation and a half". Here you can find your consolation in many forms of alcohol, in full or half pints of beer. But regarding the peace process in the Middle East, there is still not enough alcohol for consolation. Anyway, already eight years ago Nir Baram was on his mission for a one state solution, a democratic state in which Jews and Arabs live side by side. And although - or: because nothing has changed in the meantime, he keeps on fighting for this mission, maybe a bit more angry but definitely as vivid as ever. 

"Since 1967 the Israelis interfere in every aspect of palestinian life, in Gaza, in the Westbank. Do you know that every Palestinian in the Westbank can get arrested for twenty or forty days without any serious process? Do you know that 800.000 Palestinians were in jail for one day, two days or twenty years? 800.000! You cannot see how the palestinians can change the reality. It depends on Israel. I understand all these problems but who is the force to change them? Were we generous enogh? Did we really want peace? Did we try to understand the palestinian narrative, the palestinian will?" 

Nir has a half of glass of Whiskey and is completely focused. For his new book Nir has travelled for two years through the Westbank and East Jerusalem, talking to people from all sides. And he's more convicted than ever: The two state solution is dead. Israelis and Palestinians already live in a post-two-state-status-quo that can never be changed again. - But listen, Nir, most of the Israelis would say: 'There is no peace with the Palestinians. We gave them Gaza and they keep on sending rockets. They get so much money from the international community but it doesn't go to the poor people. It goes to weapons and the corrupt system.' 

"First of all, the security concern of the Israelis is something I respect and understand. I don't think we should overlook the existential feelings of the Israelis. Secondly, the palestinian authority is a corrupt system. I think, most of the Palestinians understand: The palestinian authority don't lead the Palestinians in a very brave or visionary way. And the Hamas is the Hamas. I don't deny reality. I'm saying: Right now with the palestinian authorities and the Netanjahu government there is no reason for any discussion or negotiation. It's totally fruitless. But - you have to ask yourself: In the end of the line who is responsable for changing the situation? Is it the Palestinians or the Israelis? And my answer is: It's totally the Israelis." 

Nir wants a complete paradigma change. The israeli left, he says, is completely fixed to 1967. But the wound of all the Palestinians is not 1967, it's 1948. The Nakba. And it's not only too late to withdraw the israeli settlers from the Westbank (where they created already their one state solution with the Palestinians), the desperate wish of the Palestinians is also to be freed from the prison walls they feel around themselves and to be able to return to the places from which their families have been forced away in the Independence War. Is Nir Baram aware that he's attacking the core of the jewish nation? One state and equality for all, that's the only solution for peace, Nir Baram says in his brilliant book: Israel must start to talk about 1948. 

The light at the end of the tunnel: Hip Hop from Palestine

There's a mystic poetic power around this man. It makes me nervous when I meet him for an interview. Tamer Nafar is the Chuck D of Palestine, the first and greatest hip hop star of arab Israelis. He comes from the city of Lod, a poor town near Ben Gurion Airport, in which jewish and palestinian Israelis live side by side. Without taking notice of each other. 

Tamer Nafer, Palestine's Chuck D

Tamer Nafer, Palestine's Chuck D

"As you know, the two solution died a long time ago. We are already living in a one state solution, in one state. Yes, you have the Westbank, you have Gaza, but Israel is controlling all the area. In the Westbank they decide when they go out. So Israel is one state." 

When he talks, he sets up his melancholic devil's look, something introverted and romantic. But when you see him perform, rap and sing, you see a political peace fighter who has a vision beyond anger. Music is his weapon to find a way out of the stuck middle east situation. I see him in a show with his group. He sings: "This is not political". But the power he gives this phrase says nothing but the opposite. 

"I think the solution is to understand that the palestinians are not going to vanish. And to admit all the wrongs that happened to them. They have the right to exist and you cannot break their back. This is the reality: They're very loud, very clear, very strict with their rights." 

Tamer Nafar uses the same double strategy when he talks and sings. Knowing exactly that the political phrases have become useless, he would always avoid direct statements and he would always refer to his art. But at the same time, with this rhetoric gesture, he creates a space for a utopic hope. You feel it when you hear the crowd shout to his music.

"When they talk about Palestine and we have a happy ending, I'm sure Hip Hop will get one of the credits. It's not just Hip Hop it's the alternative movement but Hip Hop was the god father of it. When they talk about the light at the end of the tunnel - and there is a lot of tunnel - there is also a light. And I do see the light." 

He sings: "I'm in love with a jew" and some hundred voices sing along. His humour makes the idea of an israeli-palestinian love story imaginable.

Einmal Tango in Nahost: David Grossmann erlöst uns mit einem Witz

Kommt ein israelischer Starschriftsteller in eine Pizzeria. Winkt er dem italienischen Keller, um zu bestellen. Sagt der Kellner: "Was darf es sein?" Hängen die deutschen Fans am Tisch an den Lippen des israelischen Starschriftstellers und warten sehnsüchtig darauf, dass er eine Lösung für das Nahostproblem äußert. 

So oder so ähnlich müsste ein Witz beginnen, der von David Grossmann handelt und seiner Lesereise hierzulande zu seinem neuen brillianten Roman "Kommt ein Pferd in eine Bar". Ja, warum hungern gerade wir Deutschen so sehnsüchtig danach, dass endlich eine Lösung für den Nahostkonflikt gefunden wird? 

David Grossmann weiß das natürlich, weiß auch, dass ein Teil seines schriftstellerischen Ruhms hierzulande auf dieser deutschen romantischen Sehnsucht nach dem Friedenswort beruht, und er dosiert seine Sätze wohlbemessen, spricht in erzählerischen Parabeln, bestellt in der Pizzeria natürlich nur einen Merlot.

Umso beeindruckender, wie es Lothar Müller zuvor bei der Lesung in der Akademie der Künste gelingt, den Starschriftsteller nach einer detaillierten Analyse seiner erzählerischen Poetik in die politische Bekenntnisfalle zu locken. Die Hauptfigur in seinem Roman, ein Stand-Up-Comedian in einer Show, leide unter einer Identitätskrise. Und genau so sei es mit Israel, sagt Grossmann: 

David Grossmann, Lothar Müller

David Grossmann, Lothar Müller

"There is such sweetness in becoming yourself again. In uniting with your real self, even if it happens at a very old age. And I think that part of feeling of mistake that many people do feel in Israel is the understanding that we are not living the life we should have lived. We live in parallel to this life. We did not have the chance to live a normal life, a life of peace, a life where you walk in the street and have not to be afraid that someone will put a knife into your back, a life that you can breathe with both lungs. I deeply believe that only having peace with our neighbours, this will allow us the life that we should live."

Nicht nur dass eine Friedenslösung viele praktische Probleme aus der Welt schaffe. Auch lasse sich nur auf diesem Weg ein echtes Leben leben, das sich nicht nur von einer Katastrophe zur nächsten erstrecke, mit einer neuen finalen Katastrophe am Horizont: 

"Somewhere down the line there will be an enemy who will be stronger than us, more courageous. I think everyone should ask himself: Does it work to continue this ongoing state of war? Sometimes we have also to make the palestinians come to talk to us because they also refuse to talk to us during the last months. It's not only the responsibility of Israel. It's a kind of tango of two people who because of distorted interests are not really doing the necessary thing. Just talking to each other to see where they are agreeing and where we agree." 

Eine Art Tango. Mit anderen Worten: "Don't forget, dance". Nicht die Realitäten vergessen, aber nur beim gemeinsamen Tanz lässt sich ein Weg zum Frieden finden. Ein Bild, wie für diesen Blog gemacht. 

Ja, Grossmann weiß, wonach sein Publikum verlangt. Er weiß wie jeder große Künstler, mit dem dramaturgischen Spiel von Verweigerung/Verschweigen und Geben/Äußern Emotion und Bedeutung zu erzeugen. In seinem Roman über den verzweifelten Stand-Up-Comedian werden, kontrastierend zum existentiellen Tenor seines Auftritts, viele gute Witze erzählt. Nur einer nicht - nicht der, der dem Buch den Titel gegeben hat: Kommt ein Pferd in eine Bar. Er wird nur anerzählt und bricht dann ab. Ein schmerzhafter Lesemoment. 

Jetzt aber, bei seinem Berlinbesuch, erzählt Grossmann den Witz zuende. Es ist kein großer Witz, es gibt viel bessere in seinem meisterhaften Buch. Aber weil der israelische Starschriftsteller jetzt ganz persönlich die Pointe auflöst, brechen seine deutschen Fans in frenetisch wieherndes Gelächter aus. 

"Walks a horse into a bar. He comes to the barman and says: "Ah, I would like to have a chaser of wodka." The barman is astonished but serves the horse the wodka. The horse drinks. "How much is that?" The barman looks at him and says: "Well, fifty bucks." "Fifty bucks. Okay." The horse pays, goes to the door. The barman runs after him: "Excuse me, Mr. horse, I never saw a talking horse." The horse looks at him and says: "With your prices, you will never see one again."

Stairway to "Postcapitalism": Meeting the new Karl Marx

Here comes the new Karl Marx. Paul Mason approaches me with dynamic steps and takes his seat with a humble laughter. His mission is: fight capitalism and replace it until 2050 by "Postcapitalism". His aim: save the planet from the vicious neoliberal powers that destroy the planet and our democracies. But somehow - his book made me angry. And I tell him so. Because your vision, Paul, is just a fucking dream. 

Paul Mason, english economy journalist

"I come from a working class background. My father and grandfather were miners. We saw the destruction of a working class way of life that could not coexist with modern capitalism. I grew up in a society with working class solidarity. I know a society is possible where people collaborate."

So far, so true: With his british countrytown accent he sounds like a working class leader from Manchester capitalism. But Naomi Klein is wrong when she calls him a successor of Marx. He looks much more like a mixture of Thomas Mann and Walt Disney's Big Bad Wolf Zeke. And then - his hero is Ferdinand Lassalle. The godfather of social democracy, the ancestor of Willy Brandt und Helmut Schmidt.  

"I am revolutionary reformist, I call myself a social democrat but a radical one. This is the future. The german social democratic needs to understand this because it's not very radical. I started to ask myself: Is there a link between this rapid technological revolution we're going through and the stagnation of the economy. And that's the thesis of my book: Of course there is a link. The future economy doesnt have any value in the information technology."

Paul Mason believes in a Wikipedia socialism. Because today's capitalism is based on digital data and because all information in the digital world is everywhere and available for everyone, a new society is growing within the old system. The market system will crash from the inside, he says. German people give a great exemple by volunteering in the refugee crisis. 

"They will go and help the refugees in the morning or give food to a foodbank. For them it's just charity. Fine. But when you give time to write Wikipedia, it's like entering a gift economy. You give the gift and hope for a gift to come back. It is a non market sector which will grow and contribute wellbeing. This involves a discussion of who owns the information."

Mason Handyshot.jpg

Okay, Paul. Nice idea. But how do you want to convince Larry Page and Mark Zuckerberg who earn billions of dollars with our data to give us the control? Why would the 1% that owns 40% of the world capital share their possession with everyone? Don't you tell us that the transition from capitalism to postcapitalism can succeed without violence.

"I don't say it can succeed without violence but I prefer without. My project is short term to dismantle neoliberalism which means redistributing wealth from the rich to the poor. In the long term it's easier to convince people. If we do it right, it's a win win situation for everybody. Life will be nicer even if you have a yacht in the carribean. There are a lot of unhappy people. Postcapitalismus will set the 1% free. I want to set them free as well."

Hahaha. I LOVE this point. What a vision. Let's free the superrich. Let's not just free the 99%. Let's free the 1% too. Postcapitalism rules.

Watch Paul Mason in my tv report on "titel thesen temperamente": http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/paul-mason-240416-100.html

The israeli-palestinian Noah's Ark: Junction 48

Udi Aloni can speak like an M16. But his content is the opposite of the violent conflict between Israelis and Palestinians. The white bearded director who looks like a mixture between a Harvard professor and a grown up Beastie Boy made the movie "Junction 48", set in the city of Lod and based on a script of Palestine's hip hop star Tamer Nafar. Together with their film crew Udi and Tamer realized a dream in the holy land of no solution. 

"I compare us to Noah's Ark. There is a flood there. I cannot stop capitalism, I cannot stop colonialism, I cannot stop the superiour gaze of the jew right on the palestinians right now, I cannot stop the arab spring failed to a winter. I cannot, there is a big tragedy around. In this very pessimistic place, we create our Noah's Ark. Tamer and me, we brought two by two different animals inside. And in this place the language is language of high art, of equality, of justice, of grace, of all that. So when the flood will end - because they have to destroy themselves, this crazyness of the israeli government, of their hypervanity, with the fall of the ISIS that is taking the void that colonialism has created and is taking over, it cannot continue, it has to fail. When this fails, what will wait there? I hope that this, our community is the one that can open then the door of our Ark. 

If it's a dream that the entire region of hate, racist judafascist islamofundamentalist, jewish fundamentalist, all those people they are the reality, we are the dream or the other way around, I don't know. What we do, is a community, it's not a dream. We function, it's not just for this film, we are a group of Israelis and Palestinians that function together. And it's true that most of the Israelis that you know, even if they live 15 kilometer away from Tamer, most of them are kind of leftist without being with palestinians. By that they are serving the european ideology of separation. For me separation it's a nightmare. It's all started in my first film, 'Local Angel', when I realized that Tel Aviv is a city clean from Arabs. I've never seen any city in Europe so clean. Israel wants to be so much Europe that it became more Europe than Europe.

And for me this is: are you crazy? My worst nightmare - I spoke with my brother who is a leftist zionist - his dream is to wake up and not to see any palestinian around. But on the other hand he will fight for the human rights. For me the worst nightmare is to come to a society and there are only jews there. It's horror. Or only germans. It's not something against jews. So this is a dream but it's a reality. In an other way I would put it like that. Today with so much hate, it's almost like impossible. I don't think with our art we can't stop what's happening. But as long that we exist, at least my daughter is not racist, at least Tamer's kid is not racist. Because today it's almost like a default to be racist. Also for me to see how even Europe deals with the refugees - you're so confused. You know, as long as it's up to one million people, you're human rights. If there is million point one - poofff, you're racist! You know, because the ideology is so fucked up.

We have to change something from within. We create our own language. Either you join us our you don't join us. Either we fail - it will be a beautiful failure. In the meantime, this amazing reception we had here in Berlin showed us we touched something, also in the youth."

"Junction 48" won the audience award at the Berlin film festival.

 

What Is A Genius (part 2)?

Raus mit der Sprache, schöner Jude Law: Wie narzistisch muss ein Genie sein? Bringen uns Genies nur neue große Ideen, wenn sie sich in der Wirklichkeit asoziale Arschlöcher sind? Genau ein solches spielt Law in "Genius", wo er den Schriftsteller Tom Wolfe verkörpert. Also: Mark Twain sagt "Writing is easy. All you have to do is to cross out the wrong words." Muss der Künstler, um Genie zu sein, die falschen Einflüsterungen der Anderen ausstreichen, sich selbstbezogen auf sich beziehen?

"Your Twain quote, I like that. I think any artistic process is about choosing what to discard and what is important. And even when you put on the spot, you can only choose one. Making these kind of decisions is important because you always have to destill of what you're doing down to the essential.

I think there are elements to genius that are with madness. Because it's an isolating process. And I also think there always has to be a sort of selfishness that separates you from others - and that's whatever the medium, if you are an architect, an engineer, a painter, an actor, a writer or a doctor. It embodies a sort of drive, a motivation in something that most people probably can't see or understand that ultimately isolates you and drives to distraction because no other will understand what you're doing and you seem to be destroying rather than creating. I think that's applicable to the broadest term genius but not necessarily in the arts alone.

The one thing I'd always say is with acting you need to collaborate. With writing or playing a musical instrument or painting, you can do it on your own, so you're your own master. With acting it's slightly frustrating, you need a script, you need a group of people and indeed an audience to become alive. 
You meet like-minds but people with different approaches and different opinions. You learn to give a little and to stand up and fight for what your own really believe in. To me that's the best part of acting."

What Is A Genius, Colin Firth?

Er ist verdammt groß, verdammt schlank, verdammt intellektuell für einen Schauspieler. Das ist der erste Eindruck, den ich von Colin Firth habe, der mich stehend im Raum empfängt, die schwarze Tom-Ford-Brille zurechtrückend. Na klar, Tom Ford: In dessen Debütfilm brillierte Firth als schwuler "Single Man", eine Rolle, die ihm trotz des rotgolden Eherings, den er hier zur Schau trägt, deutlich mehr auf den Leib geschneidert scheint als der Klamauknebenbuhler in "Bridget Jones". Er setzt sich, antwortet in druckreifen Sätzen auf die Frage, ob die Schauspielerei ein Symbol unseres Handelns in der Realität ist. Wie treffen wir die richtigen Entscheidungen in unseren Handlungen?

"I had a girlfriend many years ago who used to think that acting was a meaningless art. She was an artist and she'd say it's just copying, it's aching people, what is it? At the same time she used to say I don't trust words, words never say what they mean. A word is never trustworthy, never say what they say. 

And I used to say but that's why we are acting. It's trying to go beyond, let's go where the words can't go. So they're obviously symbiotic: The writer is almost literally like a god to an actor because he created the caracter. And you know, if I'm not working, the thing that I most want to do is to read. It's a very very intimate relationship between an actor and a writer. 

The written word is possibly my favorite form, and I'm kind of thrilled to writers but I'm also aware how important the space is, what takes place between the words and what happens when the sentence finishes and something else takes over. Watching performances is very different from reading, and so interpretation (and this means interpretation) has a huge eloquence in itself. All the nuances of the silence or of the inflected voice - you can transform a meaning entirely with inflection, gesture, what kind of silence you're experiencing. Those things are very largely the province of the actor. 

You have to decide what your caracter's objective is, what the obstacles are, what you have to do to overcome these obstacles, where the changes take place, how adversity defines your caracter. Caracter is plot, plot is caracter - you know, how you negotiate is how people know how you are. These are the decisions actors have to make to."

Ich habe Angelina Jolie berührt.

Da sitzt er, dieser unverschämt lässige Beautyboy, überstrahlt das Schwarz mit seinem strahlenden Jude-Law-Lachen, das auch den straightesten Hetero-Typen an seiner Homophilie packt, und sagt: "Ich hatte Fieber letzte Nacht und gebe Ihnen nicht die Hand." 

Und ich denke sofort: Machst du auf unberührbar? Hast du Angst, dass du mir den kleinen Finger reichst und ich dir mit meinen Fragen alle zehne breche? 

Ich hatte das Händeschüttel-Thema schon vor einigen Jahren, als ich Anne Hathaway genau hier, im Hotel Regent am Gendarmenmarkt, interviewte, zwei Wochen, bevor sie den Oscar für "Les Misérables" bekam: ein bildschönes Bubikopf-Fräulein aus Hollywood. Damals sagte die PR-Frau gleich am Eingang: "No handshaking", und ich brauchte eine Weile, bis ich die doppelte Codierung dieses Imperativs knackte.

Einerseits war es schlicht Angst, dass diese wunderzarte Porzellan-Püppi unter einem Händedruck zerklirren könnte, sprich sich kurz vor den Oscars irgendein gemeines Berlinbakterium einfangen könnte und damit hustend in den Olymp der Filmgeschichte aufsteigen müsste. Andererseits errichtet diese Schranke aber nur der, der sich seiner Zugehörigkeit zu den Olympischen nicht sicher ist, der befürchten muss, durch den Kontakt mit den Normalsterblichen wieder zu diesen hinabgezogen zu werden, der berührbar bleibt durch Berührung. Im schlimmsten Fall hätte es passieren können, dass diese angehende Hollywood-Diva, die durch und durch etwas "Angehendes" hatte, den Oscar nicht bekäme, weil sie zu viele Hände von uns Gemein-Irdischen gedrückt hat.

Damals die Frage: Was hat die historische Welt der "Misérables" mit unserer Gegenwart zu tun? Ist es nicht so, dass dieses Victor-Hugo-Elend der heutigen Welt den Spiegel vorhält? Ja, bestätigte Anne Hathaway, sichtlich bemüht, etwas Tiefsinniges zum Riss der Welt zu liefern, der zwischen der Hollywood- und der profanen Welt verläuft. Genau an diesem Liefern-Wollen, am Performen der Antworten, scheiden sich Groß und Klein, Genie und Mittelmaß. Du spürst es an der Präsenz, die im Raum ist, und wenn du es nicht gleich spürst, spürst du es im nachhinein, Stunden oder Tage, nachdem du das Hotelzimmer verlassen hast. Und du weißt: Der Eine ist nur ein guter Schauspieler, aber der Andere ist ein Star. Es ist genau das, was man in diesen Begegnungen spürt: Auf welchem Grad zwischen Normalsterblichkeit und Göttlichkeit stehen diese Künstler, denen man hier wie in einer Audienz des Papstes begegnet? 

Angelina Jolie zögerte keinen Moment, mir ihre Hand zu reichen. Und obwohl ihre Unterarme aus dem plissierten Hauch ihres Kleids wie ätherische Stäbe ragten, war ihr Händedruck der einer Frau, die die Welt an den Eiern packt. Und so geschah es: Ich habe Angelina Jolie berührt

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Diese Berührung glich jener, die Pilger am Grabmal des Hl. Antonius in Padua zelebrieren. In der Basilica di St. Antonio stehen die Menschen Schlange, um die glänzende, von Abertausenden von Händen polierte Stelle zu berühren und das Gebet zu sprechen, mit dem sie den Hl. Antonius um Beistand bitten. Die Magie dieses Moments, dieser Zeremonie kann vielleicht nur verstehen, wer katholisch erzogen worden ist oder an die gute Seite der MACHT der Jedi-Ritter glaubt.  

In jedem Falle: Als Angelina Jolie ihren ersten selbstgeschriebenen Film "In the Land of Blood and Honey" vorstellte, dieses hochpolitische Kriegsmelodram, war es, als sei sie als Heilige zu den Normalsterblichen herabgestiegen, um sich berühren zu lassen, sich ihrem Streit zu stellen. Sie setzte das Zeichen, dass jene imaginäre Hollywoodexistenz, die für uns normalerweise nicht zu verifizieren ist, aus Fleisch und Blut ist, also nicht nur PR, sondern reales Vor-Bild für den Kampf um das Bessere in der Welt.

Es gibt keine Gewissheit, dass das Gute siegen wird oder als Gutgemeintes nicht sogar in sein fatales Gegenteil umschlägt. Aber wer es gleich bleiben lässt, wird die Welt nie verändern. Genau um diese Vision geht es hier in diesem Blog. Weshalb sie, die Hl. Angelina, seine Schutzheilige ist.