"Der Terrorist kann unsere Demokratie nicht kaputt machen, das machen wir selbst" - Interview mit Ferdinand von Schirach über "Terror"

Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Soll ein Kampfpilot ein Passagierflugzeug abschießen, um zu verhindern, dass ein Terrorist dieses auf ein vollbesetztes Fußballstadion stürzen lässt? Wie weit können oder müssen wir über unsere Grundrechte hinweggehen, um uns gegen einen Terrorismus zu schützen, der unserer freien Gesellschaft den Krieg erklärt hat?

Darüber habe ich mit Ferdinand von Schirach eines der ganz wenigen Interviews geführt, die der Bestsellerautor überhaupt gibt. Der ehemalige Strafverteidiger, der in seinen Büchern auf einzigartige Weise die Abgründe der menschlichen Seele und die moralischen Fragen beleuchtet, die sich hinter Verbrechen auftun, stellt das eingangs geschilderte Szenario in seinem Erfolgsdrama "Terror" zur Diskussion, das in über vierzig Theatern in Deutschland aufgeführt wurde. Das Urteil in dem Gerichtsverfahren, das auf der Bühne stattfindet, fällt am Ende nicht der Richter im Stück: Die Zuschauer im Saal müssen selbst abstimmen. Selbiges tun nun auch die Fernsehzuschauer bei der Verfilmung des Dramas mit Florian David Fitz, Martina Gedeck, Burghart Klaußner und Lars Eidinger in den Hauptrollen. Die Ausstrahlung ist in der ARD am Montag, 17.10.2016, um 20:15 Uhr zu sehen: http://www.daserste.de/unterhaltung/film/terror-ihr-urteil/index.html

Ich treffe Ferdinand von Schirach im "Grosz", einem mondänen Restaurant-Café am Berliner Kurfürstendamm, in das er gern geht. Er ist ein ebenso freundlicher wie distinguierter Mann, der als leidenschaftlich diskutierender Mahner auftritt - und der eine überraschend klare Position in der Urteilsfrage des Stückes einnimmt:

"Ich selbst, ja natürlich, bin der Ansicht, dass der Pilot klar verurteilt werden muss. Aber darum geht es nicht, welcher Ansicht ich bin. Es geht wirklich darum, dass die Leute drüber nachdenken, und das Schöne ist, wenn sie darüber diskutieren und danach streiten - und nicht nur überlegen, wohin gehen wir essen? Mehr kann man nicht erreichen. Die Argumente sind ja von Verteidiger und Staatsanwältin nicht einfach. Man schwankt dauernd. Man kann beide Ansichten vertreten. Es gibt auch in den großen Rechtssystemen Unterschiede. In Amerika würde eher der Verteidiger Recht erhalten. Im lateinischen Recht ist es umgekehrt, wir haben als oberstes Prinzip den Begriff der Würde und bestimmen die meisten Dinge danach. Ich bin der Meinung, dass man das Recht über die Moral stellen muss. Wenn wir die Flüchtlingskrise nehmen, dann hat die Kanzlerin aus moralischem Impetus gehandelt, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie damit gegen Recht verstoßen hat, weil sie kein Mandat des Bundestags hatte. In dem Fall finden wir das alles richtig - es ist gut, dass geholfen wird. Aber es rächt sich, beim nächsten Mal ist es jemand anderes, der sich über das Recht erhebt. Deshalb ist es gefährlich, deshalb denke ich, dass der Pilot veruteilt werden müsste."

Aber gelten unter den Umständen, die das Stück aufwirft, nicht andere Bedingungen? Viele Politiker führen an, dass wir uns in einem "Krieg gegen den Terror" befinden...

"Es ist gefährlich von Krieg zu sprechen, denn das Kriegsrecht ist eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung gemacht. Wenn Sie sagen, wir befinden uns im Krieg mit dem Terrorismus, dann ist die Welt Kriegsgebiet, dann gelten hier in diesem Café Kriegsrechtszustände, mit der möglichen Tötung von Kombattanten. Das ist das Gegenteil von dem Staat, in dem ich leben will. Terrorismus ist ein Angriff auf die Gesellschaft, daran besteht kein Zweifel, und der Rechtsstaat muss wehrhaft und stark sein und die Bevölkerung schützen. Aber er darf die Sicherheit nicht auf Kosten der Freiheit erlangen. Ein bisschen Sicherheit muss sein, aber die Kosten dürfen nicht zu hoch sein, sonst ist der Staat nicht mehr das, was er selbst verteidigt."

Was bewegt Ferdinand von Schirach persönlich an dem Fall? Warum setzt er sich mit solcher Verve für den Rechtsstaat ein? 

"Aus der Geschichtskenntnis. Sie müssen sich unsere Geschichte anschauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Demokratien nicht in Stein gemeißelt sind, sie geraten durch die Demokraten selbst in Gefahr. Der Terrorist kann unsere Demokratie nicht kaputt machen, das machen wir selbst, indem wir anfangen, unsere Bürger zu überwachen, ihre Freiheit zu beschränken. Nehmen wir etwas so Simples: die Überwachung unseres Fernmeldeverkehrs. Es gilt der Grundsatz, dass wir den Verdächtigen überwachen. Jetzt überwachen wir alles und schauen mal, ob es verdächtig ist. Das ist eine Umkehrung rechtsstaatlicher Bedenken. Es ist eine Beschränkung der Freiheit. Man muss den Anfängen wehren. Die Überwachung ist auch keine Kleinigkeit, weil wir nicht wissen, was die Geheimdiesnte damit machen. Man hat als Zeitungsleser den Eindruck, das ist ein Staat im Staat. Die unterwerfen sich keinen Regelungen mehr. Wir können sie nicht kontrollieren. Das ist irrsinnig gefährlich. Weil wir es ja schon erlebt haben. In Diktaturen. Wir erleben es überall auf der Welt in Diktaturen. Das ist der Impuls. Das ist meine Angst."

(Das Gespräch fand zur Dresdner Inszenierung unter der Regie von Burghart Klaußner für MDR artour statt.)