Unter Olivenbäumen, die fünf- bis achthundert Jahre alt sind, sitzt das kalifornische Bestsellerautoren-Ehepaar Ayelet Waldman und Michael Chabon wie in der toskanischen Sommerfrische. Doch der Schauplatz unserer Begegnung ist: Hebron, ein Hügel, von dem ein palästinensisches Gemeinschaftszentrum auf die Altstadt mit den von jüdischen Siedlern okkupierten Häusern hinabblickt. Ihretwegen hat die israelische Armee die alte Hauptstraße Hebrons für alle Palästinenser gesperrt. Für einen TV-Bericht in "titel thesen temperamente", den man in der ARD-Mediathek HIER ansehen kann, interviewe ich die beiden. Was bringt die Schriftsteller dazu, ihre Comfort Zone Berkeley zu verlassen und sich mit der israelichen Besatzung zu befassen?
Chabon: "Wir sind beide Juden und mit Israel eng verbunden. Ayelet ist hier in Jerusalem sogar geboren, sie spricht hebräisch, hat hier gelebt. Aber ganz abgesehen davon finden wir beide, dass man den Mund aufmachen muss, wenn man Ungerechtigkeit sieht, zumal in einer so massiven Dimension."
Waldman: "Das ist wirklich das Wichtigste dabei: Wir sind alle Weltbürger. Wir haben die Verpflichtung, den Mund aufzumachen, wenn wir Ungerechtigkeit sehen. Das bringen wir unseren Kindern bei. Übrigens ein sehr jüdisches Konzept: Tikun alam. Kümmere dich um die Welt. Aber hier heißt es oft: Halt dich raus. Erhebe deine Stimme nicht. Das ist eine Verteidigungsstrategie."
Chabon: "Ich denke sogar, es ist eine Angriffsstrategie. Die ultimative Technik, die Welt zum Schweigen zu bringen und die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Das weisen wir zurück."
Waldman hat eine Reportage über zwei palästinensische Kinder und ihre ungerechte Behandlung geschrieben. Warum?
"Es ist kein Zufall, dass Kinder verfolgt werden. Es ist ein sehr effektives Mittel, die Bevölkerung zu kontrollieren. Mehrere Millionen Palästinenser leben im Westjordanland und weniger als eine halbe Million Siedler. Die israelische Armee ist dazu da, sie zu schützen und den fragilen Frieden zu bewahren. Ja, es ist ein Frieden trotz der Intifida mit den Messerangriffen. Gemessen an dieser Situation sind nur relativ wenige Israelis ermordet worden. Das kann man dem israelischen Militär als Erfolg anrechnen. Aber erreicht hat es das durch kollektive Bestrafung. Jeder einzelne Palästinenser muss sich ununterbrochen überwacht und verfolgt fühlen. Der effektvollste Methode, dies zu tun, ist: die Kinder ins Visier zu nehmen."
Trotzdem. Ich frage mich: Ist die Kritik an der israelischen Besatzung nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Antisemitismus schüren?
Waldman: "Es gibt zwei Seiten dieses Konflikts, keine Frage, und natürlich ist das Ganze mit der Geschichte der Juden in Deutschland verbunden. Aber wir sprechen über die Besatzung, die militärische Besatzung von Millionen Menschen durch eine Militärmacht. Es gibt keine zwei Seiten bei einer Besatzung. Es gibt die Besatzer und die, die darunter leiden. Allem voran glaube ich auch nicht, dass wir das, was hier geschieht, verbergen können. Und wenn wir es nur gut verbergen, was hier im Westjordanland und in Gaza passiert, dann werden alle die Juden lieben. Die Leute haben sich über viele tausend Jahre Gründe einfallen lassen, um die Juden zu hassen. Das, worauf ich als Jüdin am stolzesten bin, ist die Tatsache, dass wir Dinge besser machen können, als wir es tun. Ich glaube aus vollem Herzen, dass es eine gerechte Lösung für den Konflikt gibt. Und ich glaube genauso, dass es eine sofortige Lösung für die Beendigung der Besatzung gibt. Es heißt, man müsse verhandeln und all die komplexen Fragen lösen. Nein: Die Menschen müssen nicht darüber verhandeln, um eine grundlegende Basis ihrer Menschenwürde zu erhalten. Diese verletzt die Besatzung grundlegend."
Chabon: "Ich würde einfach sagen: Gibt es Antisemitismus auf der Welt? Ja, unbedingt. Steigt er an? Sieht so aus. Rechtfertigt unsere Angst vor Antisemitismus die Besatzung? Absolut nicht. Rechtfertigt die Angst unser Schweigen über die Dinge, die Israel tut und mit denen wir nicht übereinstimmen? Auf keinen Fall. Manchmal ist nicht klar, was richtig und falsch ist, aber wenn es um die Besatzung geht, dann ist das eines der ganz wenigen Dinge in meinem Leben, wo ich merke: Das ist offensichtlich, was hier zu tun ist. Es gibt keine zwei Seiten der Besatzung. Es gibt nur die richtige und die falsche Sache."
Dennoch: Was ist mit dem Bedrohungsgefühl der Menschen in Israel? Was mit Terrorattacken und Messerangriffen? Außerdem sind die Methoden von "Breaking The Silence" umstritten.
"Klar gibt es Messerangriffe und Selbstmordattentäter. Breaking The Silence tun etwas ganz Einfaches. Sie legen Zeugnis ab. Jedes Zeugnis ist geprüft, doppelt geprüft, und wird sogar dem israelischen Militär vorgelegt, so dass es sogar mit Zensurbestimmungen übereinstimmt und dass es keine Sicherheitsbedenken gibt. Was sie allerdings tun, ist: die Wahrheit auf die kraftvollste Weise zu zeigen, die es gibt. Das ist die persönliche Geschichte."
Chabon: "Die Anonymität zu kritisieren, heißt, Breaking The Silence für das zu kritisieren, was getan werden muss. Die Privatsphäre der Soldaten muss gewahrt werden. Nur so ist es möglich. Sie können keine Zeugenaussagen machen, wenn sie nicht anonym bleiben."
Waldman: "Die Heuchelei der Regierung ist umwerfend, was Breaking The Silence angeht. Aber ich denke: Diese Heuchelei und die aggressive Reaktion auf Breaking The Silence ist selbst der Beweis, dass die Organisation das Richtige macht. Es wäre nicht so, wenn sie nicht die Wahrheit sagen würden."
Chabon: "Die Sicherheitsbedrohung für Israel ist die Besatzung selbst. Das ist nicht etwa meine Meinung, sondern die Aussage jedes Mossad- oder Schinbeth-Mannes, der in Pension geht und endlich offen sagen kann, was er denkt. Sie alle sagen mehr oder weniger dasselbe: Die größte Bedrohung für Israel ist die Besatzung. Wenn man also die Frage stellt, wer dem Land mehr Gefahr zufügt, dann sind es nicht die Menschen, die sie zu beenden versuchen, sondern diejenigen, die sie aufrechterhalten."
Waldman: "Es sind die Menschen, die dort drüben leben (sie deutet auf die jüdischen Siedlungen): Das ist die Gefahr für Israel."
Chabon: "Und die Regierung unterstützt sie."
Und was ist mit dem Gaza-Streifen? Als die Israelis sich dort zurückzogen und das Land vollständig den Palästinensern überließen, haben diese die Hamas gewählt, die Israel vernichten will und Raketen abfeuert.
Waldman: "Was haben sie ihnen gegeben? Ein Gefängnis. Sie haben ihnen kein Land gegeben, in denen sie handeln können, einen Zugang zu einem Hafen haben, sich ihr Leben verdienen können. Sie schufen ein riesiges, mieses, schreckliches Freiluftgefängnis und sagen nun: Schaut euch an, was sie tun."
Chabon: "Wir haben ihnen ein Gefängnis gegeben und sie verhalten sich wie Gefangene. Wenn ein Kind in Gaza geboren wird, gibt ihm ein israelischer Armeecomputer die Nummer seiner palästinensischen Staatsbürgerschaft. Wer regiert also in Gaza?"
Einer, der sich mit Gaza ebensogut auskennt wie mit den jüdischen Siedlern, ist mein guter Freund Assaf Gavron. Der Schriftsteller war in Gaza selbst als junger Soldat während der ersten Intifada stationiert. Und er hat einen Roman über die Siedlungen im Westjordanland geschrieben, für den er lange dort recherchiert hat. Mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee lässt er sich am Esstisch seiner Tel Aviver Wohnung zwischen jeder Menge Kinderspielzeug nieder.
"Die Besatzung ist unser schwierigstes Problem. Wir müssen alles tun, um sie zu beenden. Breaking The Silence ist eine Gruppe von Aktivisten, die ich unterstütze. Und sie brauchen Unterstützung, denn sie wurden als Verräter und Feinde von der israelischen Regierung und der Rechten ins Visier genommen. Sie werden von außen kontrovers gemacht. Man versucht sie zu kritisieren und ihnen die Legitimierung zu entziehen. Man kann mit ihnen streiten und sagen, dass man nicht übereinstimmt, aber sie als indiskutabel zu brandmarken und jenseits der Gemeinschaft anzusiedeln, ist falsch. Warum das so ist: weil sie die Armee berühren. Die Armee war immer Konsens im Land. Wenn sie mit Geschichten an die Öffentlichkeit gehen, die die Leute nicht mögen, ist das schwierig. Für mich wiederum war es leicht. Denn ich war selbst Soldat in den besetzten Gebieten - in Gaza. Ich weiß, dass die Geschichten, die sie erzählen, wahr sind. Dabei geht es nicht um eine einzelne Geschichte, sondern um die Mechanismen, die sie offenlegen. Ich war ein Teil dieser Mechanismen. Für mich besteht kein Zweifel, dass die Geschichten wahr sind, und diese Wahrheit muss erzählt werden."
Worin bestehen die Mechanismen?
"Was vor Ort geschieht, ist das: Da sind 5.000.000 Palästinsner, die auf Gebieten leben, die vor 50 Jahren besetzt wurden. Und da sind jüdische Israelis, die Siedler, die die israelische Armee verteidigen soll. 400.000 insgesamt. Um sie zu beschützen - das ist der Auftrag der Armee -, gibt es offenbar keinen anderen Weg, als die Mehrheit, die dort lebt, einzuschränken. Man hat dafür viele Wege, die Straßenblockaden, unterschiedliche Straßen, ein System, wo man bei jüdischen Feiertagen die Bewegungsfreiheit völlig untersagt: Man kontrolliert fast jeden Aspekt ihres Lebens. Man hat das Recht, in die Privathäuser hineinzugehen und aus Sicherheitsgründen zu beschließen, dass man dieses private Haus mit einer Familie übernimmt. Ich habe das getan als Soldat! Du sagst, es gibt einen Grund für das alles. Und das stimmt. Ich war bei der Armee und alle von Breaking The Silence sind zur Armee gegangen, weil wir unser Land beschützen wollten. Aber die Besatzung dient nicht dazu, unser Land zu beschützen. Es beschützt eine sehr kleine Minderheit - und nicht wirklich die Sicherheitsinteressen Israels. Ich glaube, wenn man die Besatzung beendet, schützt man damit langfristig die Sicherheitsinteressen Israels weit weit mehr."
Und dann noch einmal zurück nach Hebron. Am Tag vorher habe ich mich mit der Schriftstellerin Fida Jiryis bereits in ihrer Heimatstadt Ramallah zu einem Kaffee getroffen. Sie ist im Norden Israels aufgewachsen, dann für einige Jahre nach Kanada gezogen, schließlich aus Heimweh nach Palästina zurückgekehrt. Wo auch immer sie lebte, schreibt sie in ihrem Text, kam sie sich als Mensch zweiter Klasse vor. Nun sitzen wir ebenfalls den alten Olivenbäumen über den Dächern der Stadt. Was geht ihr hier oben durch den Kopf?
"Die Leute hier oben müssen den Hinterzugang nehmen, um zu ihrem Haus zu kommen. Sie werden immer mehr unterdrückt. Es gibt keine Hoffnung am Horizont. Fünfzig Jahre Besatzung ist eine lange Zeit. In meinem Essay sage ich: Die Palästinenser tun Israel einen kolossalen Gefallen, indem sie dies Besatzung nennen. Denn eine Besatzung ist per definitionem zeitlich begrenzt. Nach einem halben Jahrhundert, mit einer halbe Million jüdischer Siedler und Hunderten Siedlungen, ist der Begriff Besatzung weit überdehnt. Das macht die Bedeutung dieses Buches noch größer, weil so viele Leute sich schwer tun zu verstehen, worüber wir wirklich sprechen. Aber die Tatsache, dass internationale Schriftsteller, die weltweit ihre Leser haben, mehr oder weniger nun die gleiche Geschichte erzählen, ist eine starke Hilfe."
Kannst Du an einem Beispiel erläutern, worin die Unterdrückung besteht?
"Weil wir ohne Flughafen von Export und Import abgeschnitten sind, hängen wir massiv von Israel ab. Wir sind der größte Exportmarkt für Israel. Man hält uns als Geisel und setzt seine Produkte bei uns ab. Wer im Westjordanland irgendeine Art von Handel betreiben will, muss sich riesigen Herausforderungen stellen, denn man ist verkrüppelt in bezug auf freie Bewegung und freien Handel. Ein Riesenproblem ist dabei die Gesundheitsversorgung, weil uns die palästinensischen Behörden diese nicht bereitzustellen vermögen. Was wiederum an den großen Einschränkungen, die uns auferlegt werden, liegt. Der Vater einer Freundin von mir hatte einen Herzanfall und musste für bessere ärztliche Behandlung zum Qualandia Grenzübergang, wo er dann vier Stunden lang im Krankenwagen herumlag. Wir sprechen über jemand, der zum Überleben einen Bypass benötigte. Die Soldaten haben nur gesagt: Wir haben noch nicht die Papiere von der zuständigen Stelle. Diese unmenschlichen Dinge, die im tagtäglichen Leben passieren, bedeuten, dass Israel vier Millionen Menschen in fast jedem praktischen Aspekt ihres Lebens als Geisel festhält."
Andererseits höre ich immer wieder, dass die internationale Staatengemeinschaft Palästina seit vielen Jahren riesige finanziellen Hilfen gewährt - und davon nur wenig bei den normalen Menschen ankommt. Während unter den Politikern große Korruption herrscht.
"Ja, die Korruption existiert in Palästina wie in jedem anderen arabischen Land und vermutlich in jedem großen Land überhaupt. Aber der Punkt ist: Wir sollten grundsätzlich nicht von Hilfsgeldern abhängig sein. Wir sollten uns selbst ernähren können, dann wäre Korruption eine interne Sache. Dass wir noch immer von internationaler Hilfe abhängen, ist ein Desaster. Wenn sie morgen enden würde, würde die Hälfte der Menschen hier verhungern."
Macht das Buch, das jetzt erscheint, dir irgendwie Hoffnung?
"Wir sind zerspalten. Als Nation finden wir unseren Weg nicht wirklich vorwärts. Aber dieses Buch gibt mir wirklich Hoffnung in dem Sinn, dass unsere Situation der internationalen Gemeinschaft besser bekannt wird. In unserem Fall spielt diese mit Karten, die uns wirklich betreffen. Weil sie Israel Hilfe gibt, uns Hilfe gibt und die internationalen Beziehungen beeinflusst. Das Andere ist: Ich bin wirklich hoffnungsvoll, weil wir viele jüdische Leser und Israelis erreicht haben, die unsere Situation verstehen und uns zu helfen versuchen. Das hat enorme Bedeutung. Ich glaube stark, dass die Lösung am Ende von uns allen hier kommen muss. Und dass keine Kraft von außerhalb wird sie uns aufzwingen können. Am Ende wird es eine Kombination des äußeren Drucks sein und des Drucks aus dem Inneren der israelischen Gesellschaft, die zu einer Lösung findet."