Berliner Buchpremiere: Ein vollbesetzter Saal - kein Wunder bei diesen Gesprächspartnerinnen.
Shelly Kupferberg ist nicht nur eine der besten deutschen Moderatorinnen für kulturpolitische Themen, sie ist auch in Tel Aviv geboren und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Wer wäre prädestinierter als sie, um über die Vorbildfunktion der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv zu diskutieren?
Das ist das Thema der öffentlichen Premiere meines Buches "Ein Zuhause in der Fremde", die im Rahmen der Gesprächsreihe "Don't Forget Dance" in der "janinebeangallery" stattfindet. Um die Brücke zur erhitzten deutschen Integrationsdebatte zu schlagen, ist Seyran Ates gekommen. Die deutschtürkische Anwältin und Autorin, die sich seit vielen Jahrzehnten vehement in Kopftuchdebatten und Menschenrechtsdiskussionen einmischt, hat soeben ihre eigene Moschee eröffnet: ein liberales Gegenmodell zu den Gebetshäusern der konservativ religiösen Islamverbände.
Wegen deren Anfeindungen benötigt sie Polizeischutz. Die muskulösen Männer vom BKA stehen. Sitzplätze sind keine mehr frei.
Shelly Kupferberg: "Die sogenannte Willkommenskultur - könnte man die Energie der vielen Engagierten und Ehemaligen hierzulande nicht fruchtbarer machen?"
Seyran Ates: "Man könnte nicht nur, man müsste es. Ich bin sehr sehr dankbar für dieses Buch. Es gibt Schuldirektoren, die verzweifelt sind. Wir haben Schulen mit 95 Prozent Migrantionshintergrund. Sie fragen sich, wie man deren Potential nutzen kann. Am Ende ist es ein Sammelsurium an Feindseligkeiten, die man erlebt: religiöse und kulturelle Kriege auf dem Schulhof Die Schulen sind extrem überfordert und allein gelassen. Es fehlt an Ideen, aber auch an der Erlaubnis, diese Konzepte umzusetzen. Wir müssen vom Schulsystem die Erlaubnis bekommen."
Shelly Kupferberg: "Wir sind ein Einwanderungsland. Wann sind wir auch eine Einwanderungsgesellschaft?"
"Dann, wenn wir ein Einwanderungsgesetz haben. Erst dann, wenn sich in den Köpfen der Sachbearbeiter und Politiker festsetzt, dass wir als Einwanderungsland mit einem Einwanderungsgesetz die Einwanderung vernünftig regeln wollen. Das Zuwanderungsgesetz sagt nämlich, wir wollen Zuwanderung verringern. Das sagt Artikel 1! Das passt nicht zusammen. Deshalb ist die Philosophie in der Ausländerbehörde - die Migrationsbehörde heißen sollte - kontraproduktiv. Eigentlich sollten auch die konservativen Politiker verstehen, dass wir mit einem Einwanderungsgesetz eine viel bessere Einwanderungspolitik machen könnten. Wir könnten viel viel mehr Forderungen stellen. Es heißt ja nicht, dass wir mit einem Einwanderungsgesetz die Türen aufmachen und jeder kann rein, im Gegenteil. Wir könnten so viel besser Einwanderung steuern, und zwar eine plurale Einwanderung. Was wir jetzt durch das Zuwanderungsgesetz haben, ist eine Ehe- und Familieneinwanderung. Das heißt, wir bekommen die Zuwanderung immer nur aus einem bestimmten Milieu. Deswegen wächst bei uns das konservative, rückwärtsgewandte Milieu, auch aus der Türkei."
Shelly Kupferberg: "Ich frage mich: Welche Rolle sollten Eltern sogenannter bildungsferner Schichten spielen? Wie wird mit denen an deutschen Schulen umgegangen? Und welche Potentiale gäbe es, die mit ins Boot zu holen."
"Es gibt einzelne Projekte, und da sind die wirklich dankbar. Die 'bildungsfernen Eltern' sind sehr daran interessiert, dass ihre Kinder eine bessere Bildung erhalten. Dieses Potential muss man nutzen. Für mich ist es nach wie vor ein Rätsel, warum Deutschland in punkto Bildung so versagt. Ich kann es mir nicht erklären, dass man dabei zuschaut, wie eine Schule nach der anderen aufgrund des hohen Kulturenanteils kapituliert. Das geht so weit, dass manche Lehrer verzweifelt den Lehrerberuf aufgeben. Totale Kapitulation. Ich kenne Leute, die in die Innenverwaltung gehen, ich gehe nicht mehr an die Front. Da ist eine Frau, die sagt, ich bin emanzipiert, ich habe in der Frauenbewegung viel gemacht, wir haben dieses Land schon einmal so weit gebracht - und dann kommt so ein Araber, Kurde oder Türke und sagt zu mir Schnepfe oder Hure, und beleidigt mich: mit Frauen red ich nicht. Und ich soll den Mund halten? Da passieren komische Dinge, die ich nicht kommentieren darf, denn wenn ich das tue, bin ich eine Rassistin?"
Norbert Kron: "Das heißt: Was würden Sie fordern?"
Seyran Ates: "Ich als Lehrerin? Natürlich couragiert sein und sagen: Hey du Hosenscheißer. Ich habe in diesem Land viel dafür getan, dass Frauen mehr Rechte haben, und wenn du das nicht akzeptierst, dann hast du ein Problem. Setz dich hin. Und wenn deine Eltern damit ein Problem haben, dann sollen sie kommen. Es geht darum: sehr viel mehr Haltung zu wahren, Rückgrat. Das hat nichts mit Rassismus zu tun. Ich bin eine Verfassungspatriotin, habe darüber auch ein Buch geschrieben, und dieses Land liebe ich sehr. Warum arbeitet man noch immer daran, dass man Parallelgesellschaften festigt, anstelle dafür zu sorgen, dass wir alle zu dieser Gesellschaft gehören."
Shelly Kupferberg: "Vielleicht liegt es auch daran, dass jahrzehntelang eine falsche Integrationspolitik gemacht habe - oder gar keine. Ich denke, Chancengleichheit besteht in diesem Land immer noch nicht, wenn man in seinem Namen zu viele Ys und Üs hat - anders als wenn man Marlene Schulz heißt. Das erfahren Sie sicherlich auch - während es bei mir vielleicht weniger der Fall ist, weil ich eher eine Schummelpackung bin: Wenn ich durch die Straßen gehe, würde keiner denken, dass ich einen anderen Hintergrund als einen biodeutschen habe. Und dann muss ich auch sagen: Es gibt ein paar Meilensteine, die mir in der ganzen Debatte aufgefallen sind. Ich habe keine Deutschen erlebt, die Kerzen ins Fenster gestellt haben, als es die NSU-Morde gab. Die Sarrazin-Debatte war auch ein ganz schlimmer wichtiger Meilenstein in dieser Negativdebatte. Da haben viele meiner türkischstämmigen Freunde gesagt: Ich fühle mich ganz komisch in diesem Land - jetzt findet wieder so ein 'Othering' statt."
Seyran Ates: "Ja, aber da muss ich auch wieder die andere Seite der Medaille sehen. Mein Neffe sagte, wenn er jetzt sieht, was es von türkischer, muslimischer Seite für Reaktionen in den sozialen Netzwerken auf unsere Moschee gibt, dann kann ich verstehen, dass die Deutschen sagen: Wir wollen damit nichts zu tun haben."
Shelly Kupferberg: "Was hat die deutsche Gesellschaft demnach verpasst?"
"Wir haben das Einwanderergesetz verpasst. Aber meine Schelte geht nicht zu sehr auf die deutsche Seite. Wir haben hier Kräfte von außen, die hier eine große Rolle spielen. Erdogan hat als erster verstanden, dass hier Wählerpotential da ist. Die Wahabiten aus Saudi-Arabien finanzieren hier die meisten Moscheen. Die Regierung hat ganz viele Glaubensfragen dem Ausland überlassen, weil sie gesagt habe: Die Sache mit dem Islam ist so kompliziert."
Shelly Kupferberg: "Das heißt, hier wünschen Sie sich stärkere Forderungen von Deutschland aus an die Muslime."
Seyran Ates: "Natürlich. Wir müssen Einigkeit darüber haben, dass wir hier eine Demokratie haben, in der Toleranz, Respekt, Akzeptanz der Pluralität gilt. Das ist das, was die meisten Kinder von zuhause nicht verstehen, weil sie nur das Scheuklappendenken mitbringen."
Shelly Kupferberg: "Was für eine innermuslimische Debatte existiert denn darüber?"
"Eben keine. Wir kriegen Morddrohungen. Weil wir sagen: Nein, was ihr als Islam festgelegt habt, akzeptieren wir nicht. Wir wollen einen Dialog. Aber viele Kinder dürfen das nicht. Die kriegen von Zuhause gesagt: Das ist die Wahrheit. Das ist doch schrecklich."
Norbert Kron: "Eine These des Buches ist es: Wir müssen Kindern ein stärkeres emotionales Verhältnis zu Deutschland beibringen. Das gelingt in der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv: Die Kinder fühlen sich dort zuhause und indentifizieren sich mit dem Heimatland, ohne dass dies nationalkonservativ aufgeladen wäre. Die muslimischen Einwanderer suchen sich den Islam als emotionale Heimat, wenn wir ihnen keinen gefühlten Verfassungspatriotismus vermitteln. Ich hätte als vor dreißig Jahren nicht gedacht, dass ich das 'als Linker' mal sage..."
Seyran Ates: "Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mal Imamim werde. Verfassungspatriotismus ist genau das, warum es geht. Nationalstolz will ich nicht. Aber Kinder müssen lernen, was es bedeutet, hier zu leben als Demokraten und die Werte der Verfassung kennenlernen. Sie haben vollkommen recht: Es ist am Ende der Islam, der ihnen eine Identität gibt, ein Zugehörigkeitsgefühl. Das hat Erdogan geweckt: er hat sie emotional umarmt. Ihr gehört zu uns. Ihr seid hier keine Fremden in der Fremde, sondern ihr seid Türken, und wir wissen, dass ihr hier seid. Ihr seid wie auf Auslandsaufenthalt. Diese Kinder müssen wir mit dem Verfassungspatriotismus erreichen. Da bricht einem kein Zacken aus der Krone. Denn unsere Verfassung ist wirklich eine der besten der Welt. Wenn sie die islamische Menschenrechtserklärung von Kairo von 1990 danebenlegen, dann sehen Sie das Menschen- und Frauenbild in der islamischen Welt. 1990 haben 48 islamische Länder unterschrieben: Wir distanzieren uns von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und haben damit die Kluft zwischen uns aufgebaut. Und nach diesem Schema geht auch die Bildung in den Moscheen. Da müssen wir uns nicht wundern, dass eine Gegenaufklärung gegen unsere Verfassung stattfindet."
Shelly Kupferberg: "Und dabei können Sie sich auf etwas ganz Legales beziehen."
Seyran Ates: "Man behauptet, dass das von der Religionsfreiheit gedeckt wäre. Aber das ist es nicht. Das ist der Kampf, den ich seit Jahrzehnten führe. Mir wurde immer gesagt: Die Religion hat damit nichts zu tun, es gibt keine Parallelgesellschaften. Wo kann ich beweisen, dass sehr viele Muslime gerade in den Muslimen die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht akzeptieren, obwohl sie es nach außen immer behaupten? Kann ich nur machen, wenn ich in die Moschee gehe, und das haben wir jetzt getan. Wissen Sie, was die Leute am meisten aufregt? Dass Männer und Frauen zusammen beten. Da geht ihnen die Hutschnur hoch. Da wollen sie mich vergewaltigen, da wollen sie auf meine Leiche spucken, meinen Kopf gegen die Wand schlagen, mich erstechen, mich erhängen - alles. Und nur weil Frauen und Männer nebeneinander beten. Weil sie im ganzen Leben nicht so entspannt damit umgehen. So wie Sie hier halbnackt vor mir sitzen... Ihr Mann ist dabei, der lässt das auch noch zu. Nur zwei Sitze weiter sitzt noch ein anderer Mann. Ich weiß nicht, ob hier alle Männer und Frauen, die hier nebeinander sitzen, legal etwas miteinander zu tun haben. Ansonsten hätten Sie nämlich Sina begangen: Unzucht. Ich möchte wissen, wieviel Männer sich Haut von Frauen angeguckt haben. Denn der erste Blick ist ein Zufallsblick, das geht nicht. Aber der zweite Blick ist Absicht, und das ist Sünde. Mit so einem Bild wird in den Moscheen gepredigt. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist das Essentiellste, was wir für die Offenheit und Entspanntheit in diesem Land haben. Mit den Flüchtlingen haben wir jetzt das Problem. Sie kommen aus einem Land, wo die Entspanntheit nicht da war. Wenn man die fragt, ob sie einen Kaffee mit einem trinken gehen möchten, sagen sie: ja, warum nicht? Kaffee trinken kann man ja machen. Für den heißt das: Ja, ich will mit dir ficken. Aber für die Frau heißt es Kaffeetrinken. Und so kommen die Missverständnisse her. Und das wollen viele nicht benennen. Da heißt es nur die traumatisierten Menschen. Natürlich sind sie traumatisiert. Wir dürfen sie nicht gleich mit unseren liberalen fortschrittlichen Gedanken erschlagen. Aber wir dürfen sie auch nicht mit Samthandschuhen anpacken."